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So sitzt nun Doka dort seit unvordenklichen Zeiten als ein Gebilde von Stein.


2. Das versteinerte Gefährt.
(Galizisch.)

Wenn man von Czernowitz thalabwärts nach Revna zu geht, so sieht man am Wege ein eigentümliches Steingebilde. Das Gebilde gleicht einer Kutsche aus Stein, vor welcher zwei Felsblöcke liegen, die Pferden nicht unähnlich sehen. Wie die steinerne Kutsche mit den Pferden dorthin gekommen ist, berichtet folgende Sage.

Unweit der Stelle, wo jetzt die Steinkutsche steht, sass vor unvordenklichen Zeiten – wer kann das wissen, wie lange es her ist? – ein armes Weib am Wege, umgeben von ihren hungernden Kindern. In ihrer Not flehte sie zum Himmel und bat um Abhilfe ihres Elendes. Da wirbelte plötzlich oben am Berge Staub auf und bald sah die Frau eine Kutsche in scharfer Eile auf sich zukommen, denn vor dieselbe waren zwei feurige Pferde gespannt. In der Kutsche sass ein gar stolzer Herr. Derselbe kümmerte sich nicht um die ihn umgebende Herrlichkeit der Natur, sondern er schlief und träumte wohl von seinen Schätzen. Da plötzlich wurde er jäh aus seinem Schlummer aufgerüttelt, denn die Kutsche war mit einem Ruck angehalten worden, weil sich die Frau vor die Pferde geworfen hatte und in flehendem Tone rief: „Hilfe, Hilfe, ich und meine Kinder sterben vor Hunger.“

Aber der reiche Herr im Wagen liess sich von dem Hilferuf der Armen nicht erweichen, mit einem gräulichen Fluch befahl er den Kutscher über die Frau hinwegzufahren. Die Frau rief noch einmal um Hilfe, aber der Herr erneuerte den Befehl, und nun trieb der Kutscher die Pferde an. Dieselben schritten aber nicht über den Leib der Frau hinweg, sondern bogen in heftigen Ansprunge mit dem Wagen vom Wege ab, dem Abhang zu.

In demselben Augenblick erstarrte das Gefährt mit Insassen und Pferden zu Stein, welche noch heute dort am Wege liegen.

Man weiss, dass diese Steine Niemand berühren darf, sonst trifft ihn ein Unglück, denn die Steine liegen da zur Warnung für alle Geizigen und alle Habgierigen, welche ihren Mitmenschen das tägliche Brot nicht gönnen.


3. Die versunkene Kutsche.
(Ruthenisch.)

An einer gewissen Ortschaft in der Bukowina fliesst ein reissender Gebirgsfluss vorüber, welcher an einzelnen Stellen sehr tief ist. Vor vielen Jahren nun geschah es, dass ein reicher Herr, welcher in einem vierspännigen Wagen fuhr, an das Ufer des Gebirgsbaches kam. Ohne sich lange zu besinnen, befahl er dem Kutscher, er solle durch den reissenden Bach fahren, um ohne Verzug das jenseitige Ufer zu erreichen. Der Kutscher fuhr auch in das Wasser hinein, aber er kam nicht weit, denn er war grade in eine sehr tiefe Stelle hineingefahren, so dass die Pferde versanken und mit dem Wagen Herr und Kutscher.

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_024.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)