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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 1. Jg 1932


V. Die Krisenproblematik und die Lehren des III. Bandes des Marxschen ,,Kapital".

Das soeben formulierte Forschungsprogramm steht indes in eklatantem Gegensatz zur tatsächlichen Geschichte der Krisenproblematik im marxistischen Lager. „In der politischen Ökonomie" – sagt Marx – „ist die gedankenlose Tradition mächtiger als in jeder anderen Wissenschaft" (Mehrwert, III, S. 387). Wir werden sehen, daß dies nicht bloß für die bürgerliche Ökonomie allein, sondern ebenso auch von der politischen Ökonomie mancher Marx-Epigonen gilt. Zunächst wurde die Bedeutung der im II. Band des „Kapital" entwickelten Reproduktionsschemata für die Krisenproblematik überhaupt nicht erkannt. In einer 1886 in der „Neuen Zeit" erschienenen Besprechung des II. Bandes des „Kapital" führt K. Kautsky die Gründe an, warum nach seiner Meinung dieser Band für die Arbeiterklasse geringeres Interesse habe als der erste. Für sie sei nur die Produktion des Mehrwerts in der Fabrik von Wichtigkeit. Die weitere Frage, wie dieser Mehrwert realisiert wird, interessiere mehr die Kapitalisten als die Arbeiterklasse. Und dasselbe Urteil, zum Teil sogar mit denselben Worten, wiederholt kritiklos 10 Jahre später (1895) Ed. Bernstein, anläßlich des Erscheinens des III. ,,Kapital“-Bandes in einem Überblick über das ganze nun zum Abschluß gelangte Marxsche Hauptwerk. Die Praktiker der Bewegung haben oft nur den ersten Band gelesen, die weiteren Bande durch Jahrzehnte überhaupt nicht in der Hand gehabt. ,,Da Du im Loch Kapital II und III ochsen willst“, schreibt F. Engels noch am 16. III. 1895 an Viktor Adler nach Wien, „so will ich Dir zur Erleichterung einige Winke geben." Mit Recht spricht daher HiIferding von den bis zum Erscheinen des Buches von Tugan-Baranowsky, 1901, „unbeachteten Analysen des II. Bandes“ (Finanzkapital, Wien, 1910, S. 303) und fügt dann hinzu: ,,Es ist das Verdienst Tugan-Baranowskys, auf die Bedeutung dieser Untersuchungen für das Krisenproblem in seinen bekannten ,,Studien ..." hingewiesen zu haben. Merkwürdig ist nur, daß es erst eines solchen Hinweises bedurfte" (ebda, S. 304).

Mit der Wendung, die seit dem Erscheinen des Tuganschen Buches eintrat, fiel man in das entgegengesetzte Extrem. Wurde bis dahin die Bedeutung des Reproduktionsschemas für das Krisenproblem überhaupt nicht gesehen, so beginnt man es nun

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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 1. Jg 1932. C. L. Hirschfeld, Leipzig 1932, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_Jahrgang_1.pdf/94&oldid=- (Version vom 13.5.2022)