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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 1. Jg 1932

Film durchgeführt werden kann. Jedoch gibt es zugleich einen wesentlichen Unterschied, indem der Rundfunk durch Vermittlung des gesprochenen Wortes den Geist der Zuhörer direkter und unverhüllter beeinflußt als der Film; so kann der Rundfunk in den Händen bestimmter gesellschaftlicher oder politischer Schichten auf die Ideenwelt der Arbeiterschaft eine starke Wirkung ausüben. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß in einigen Ländern die Arbeiterorganisationen oder religiöse Richtungen Rundfunkorganisationen besitzen, die zu bestimmten Stunden selbständig senden und damit ihre spezifischen Auffassungen in der Welt verbreiten können.

Vor allem hat die Beeinflussungsmöglichkeit zugenommen, seitdem die Anzahl der Empfangsgeräte sich stark vermehrt hat, deren größter Teil sich bei den Arbeitnehmern befindet. Bereits vor einigen Jahren konnte das Internationale Arbeitsamt die nachfolgende Feststellung machen:

„In Deutschland gibt es z. Z. etwa 4 Millionen Hörapparate. Die Zahl hat sich innerhalb von zwei Jahren verdoppelt, und es muß betont werden, daß der größte Teil der Apparate Arbeitern gehört. In der Tschechoslowakei hat sich die Zahl der Arbeitern gehörigen Apparate verdoppelt und belauft sich gegenwärtig auf mindestens 300 000“[1].

Eine Beurteilung des Grades, in dem der Rundfunk die Arbeiterschaft beeinflußt, ist wegen des Mangels an eingehenden Untersuchungen noch nicht möglich.

Zweifellos hat der Rundfunk die Tendenz, das Familienleben des Arbeiters zu stärken. Bis zu welchem Ausmaß ist schwer festzustellen, da gerade die Anwendung des Rundfunks außerhalb des Hauses, besonders in Wirtshäusern eine entgegengesetzte Wirkung ausübt und auch eine Reihe anderer Faktoren (Kino, Tanz) das außerhäusliche Leben fördern.

Für die Beantwortung der Frage, wieweit sich der Geschmack des Arbeitnehmers unter Einfluß des Rundfunks entwickelt hat, sind umfangreiche Erhebungen nötig. Sie müßten feststellen, welche Sendungen bei ihm am beliebtesten sind und inwieweit angenommen werden kann, daß durch den Rundfunk der Anteil an anderen Veranstaltungen (Konzerten, Versammlungen, Vorträgen) beeinträchtigt wird. Aus den Resultaten derartiger Untersuchungen ließe sich schließen, in welchem Maße der Rundfunk die Mentalität der heutigen Arbeitnehmerschichten beeinflußt und psychische und geistige Bedürfnisse befriedigt.

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 1. Jg 1932. C. L. Hirschfeld, Leipzig 1932, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_Jahrgang_1.pdf/262&oldid=- (Version vom 15.1.2023)
  1. Bericht des Direktors des Internationalen Arbeitsamtes vom Jahre 1929, S. 278.