Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1 | |
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wäre. Ohnedies sind die Beamten bei den aufs äußerste beschränkten Etats der öffentlichen Körperschaften dazu gehalten, im Zweifelsfall lieber einen negativen Bescheid zu erteilen. Es bestehen daher in jedem Fall starke Motive zu ungünstigen Entscheidungen.
Die Schicht der Nichtunterstützten liefert die Bettler, Vagabunden, "Vertreter", Prostituierten, Zuhälter, Lohndrücker für Gelegenheitsarbeiten aller Art — Gäste der Herbergen und Asyle, wenn sie "Schlafgeld" haben, sonst in den Wartesälen und Hauseingängen sich herumdrückende und verzweifelt den Morgen erwartende Obdachlose[1].
Nach unserer heuristischen Maxime dürften wir annehmen, daß im Interesse seiner Wirksamkeit gegenüber diesen Schichten der Strafvollzug eine Hölle bedeuten muß, die sie gegen ihre Lebensbedingungen freiwillig nicht eintauschen. Man scheint jedoch bis jetzt die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der Nahrung und Wärme den Strafgefangenen nicht zu sehr zu schmälern. Im Gegenteil erhalten sie "angemessene Kost", die vielleicht sogar von der Ernährung eines Erwerbslosen noch vorteilhaft absticht (der Materialpreis der Nahrungsmittel in den Anstalten schwankt um ungefähr RM. —.70 pro Tag). Die Degradation, die Sinnlosigkeit der zu verrichtenden Arbeiten, die Gefängnisdisziplin mit ihrer aufgezwungenen Ordnung, die Ausschließung von aller normalen Sexualbetätigung, dazu die Feindseligkeit des überlasteten Personals der Strafanstalten, kurz, die Entziehung der Freiheit scheint vorläufig wirksam genug zu sein. Ähnliches wird man nach den Skandalprozessen der letzten Jahre von der Fürsorgeerziehung annehmen können, die bei Jugendlichen in weitem Ausmaße an Stelle des normalen Strafvollzuges tritt. Natürlich sind die Kräfte, die diese Wirkung hervorbringen, alles andere als bewußte Absicht.
Es gibt jedoch eine außerordentliche Bestätigung der hier vorgetragenen Überlegungen: den dramatischen Zusammenbruch des "humanen" Strafvollzuges in Amerika. In den Vereinigten Staaten herrscht heute eine Arbeitslosigkeit, deren Auswirkungen nicht durch eine der unseren ähnliche Sozialpolitik kompensiert werden. Die Folgen, die sich daraus für die Kriminalität und den Strafvollzug ergeben, sind unausdenkbare Steigerung des Verbrechens, unausdenkbare
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_2_-_Heft_1.pdf/79&oldid=- (Version vom 1.7.2022)
- ↑ Die entlassenen Gefangenen sollen nicht in diese Schichten gestoßen werden, sondern Fürsorgeunterstützung erhalten, aber dennoch geraten genug von ihnen dort hinein: solche, die ihre Rechte nicht kennen oder sie nicht in angemessener Weise zu vertreten verstehen, solche, die wegen begangener Delikte sich nicht polizeilich anmelden können, namentlich entwichene Fürsorgezöglonge.