Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1 | |
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die Kriminalität der verelendenden Massen an, das Zuchthaus bedeutete keinen Schrecken mehr für sie. Es lag nahe, in der Behandlung der Verbrecher zu den mittelaltertichen Methoden zurückzukehren. Laut genug ist die Forderung ertönt, doch es kam nicht so weit, sei es, daß die mühsam erworbenen Ideale der Humanität es verhinderten, sei es, daß politische Klugheit die Herrschenden davor zurückschrecken ließ, durch eine so offene Provokation die ohnehin revolutionäre Situation zu überspannen. Die Freiheitsstrafe blieb erhalten, ein Überrest aus einer Epoche ganz anderer sozialer Konstellation, nicht zu verstehen aus der Interessenlage der Gegenwart, aber sie wandelte ihre Funktion, paßte sich zwangsläufig den geänderten Bedürfnissen an. Aus sinnvollen Zwangsarbeitsanstalten wurden die Zuchthauser zu Orten bloßer Quälerei, geeignet, auch noch den Elendesten abzuschrecken. Die Kost wurde schlecht — oft geflissentlich auf Brot und Wasser gesetzt —, so daß die Gefangenen haufenweise starben. Sie wurden unzulänglich gekleidet, in Massen zusammengepfercht, die unrentabel gewordene Arbeit trat in den Dienst der Peinigung. Es mußten von den Gefangenen. Steinlasten nutzlos von einer Stelle zur anderen geschleppt werden, sie mußten irgendwelche Wasserpumpen bewegen, die das gepumpte Wasser wieder zurückfließen ließen, oder Tretmühlen bedienen, die keinerlei Zwecken nutzbar gemacht wurden. Prügel als "Willkomm" und "Abschied" und als Disziplinarmittel zu jeder Zeit ergänzten die abschreckende Wirkung.
Die Einführung der Einzelhaft war nur eine Scheinreform. Auch sie war ein Strafmittel, das noch bei Hungernden Furcht erregen und abschreckend wirken konnte bei Menschen, die nicht wußten, wie sie ihr Dasein fristen sollten; denn es gibt kaum eine größere Qual als das durch die einsame Einsperrung hervorgerufene Gefühl der vollständigen Abhängigkeit und Hilflosigkeit, der Absperrung von allen Reizen und Zerstreuungen. Nur der Form nach gestaltete sich der Abschreckungsgedanke hier anders als in den Körperstrafen des Mittelalters, aber das Gewissen der Reformer konnte sich beruhigen. Sie wollten in der Einzelhaft nicht die Tortur, sondern den Fortschritt über die Zuchthäuser sehen.
Anders als in Europa entwickelte sich der Strafvollzug in Amerika. Hier herrschte im 19. Jahrhundert eine noch größere Nachfrage nach Arbeitern als je im Merkantilismus. Der freie Boden auf der einen, die beginnende industrielle Entwicklung auf der anderen Seite schufen ein Vakuum auf dem Arbeitsmarkt, das die Einwanderung nicht
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_2_-_Heft_1.pdf/76&oldid=- (Version vom 21.6.2022)