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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

Man könnte vielleicht einwenden, daß eine solche Betrachtung die Wirksamkeit des Ehrgefühls und die Furcht vor der Schande des Bestraftwerdens nicht hinreichend berücksichtige. Tatsächlich hängt auch die Festigkeit des Gefüges der gesellschaftlichen Struktur keineswegs nur von der Stärke der äußeren Machtmittel ab, die für den Bestand der Gesellschaft sorgen sollen. Es muß die psychische Bereitschaft der großen Mehrheit hinzukommen, sich in die bestehende Gesellschaft einzufügen, sich den in ihr herrschenden Mächten unterzuordnen, den Staat als ihren Staat, das Recht als ihr Recht zu empfinden. Aber erfahrungsgemäß gibt es Schichten, bei denen diese Anpassungs- und Identifizierungstendenzen versagen.

Gewiß kommen Straffälle in alien gesellschaftlichen Kreisen vor. Sieht man aber von Personen ab, bei denen gesellschaftliche Hemmungen wirkungslos sind, oder von einigen Delikten, die die gesellschaftliche Stellung nicht berühren, wie Beleidigungen, politische Vergehen o. dgl, sieht man nicht auf vereinzelte Fälle von Sensationsprozessen, sondern auf die große Masse des Tagewerkes, das die Strafgerichte verrichten, so wird es klar, daß sich das Strafrecht fast ausschließlich gegen diejenigen richtet, die ihre Abkunft, wirtschaftliche Not, vernachlässigte Erziehung oder sittliche Verwahrlosung zum Verbrechen trieb. Daß der einzelne allein schuld an seinem Verbrechen sei, wird heute kaum mehr behauptet. Auf der anderen Seite wird auch unter stärkstem sozialem Druck nicht jedermann notwendig zum Verbrecher. Es besteht also die Möglichkeit, sich auf der Skala: unschuldige Menschen, elendes Milieu bis zum anderen Ende: ideales Milieu, aber absolute Verbrecher, in beliebigen Theorien zu ergehen, und in der Tat kann im einzelnen Falle die Widerstandsfähigkeit abnorm gering oder der Reiz übergroß sein. Jedenfalls wird von den unteren Schichten eine übermaBige soziale Widerstandskraft verlangt. Namentlich Verschiebungen in den Lebensbedingungen der breiten Volksmassen, die große Teile der Bevölkerung aus ihrer Existenz herausdrängen — lange schwere Winter, Teuerungen, Krisen —, werfen die geistig und körperlich Schwächsten in hohem Maße auf die Bahn des Verbrechens. Soll der Strafvollzug geeignet sein, diese Schichten vom Verbrechen in wirksamer Weise abzuhalten, so muB er ihnen noch als ein Absturz gegenüber ihren bisherigen Bedingungen erscheinen. Man kann diese Überlegung allgemein auch so formulieren, daß alle Bemühungen um die Reform der Behandlung der Verbrecher ihre Grenze finden an der Lage der

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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_2_-_Heft_1.pdf/68&oldid=- (Version vom 14.6.2022)