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Ausserdem finden sich in Westeuropa noch zwei andere Erzählungen von dem Schicksalskind: die italienische Novelle von Florindo und Chiarastella aus dem 16. Jahrhundert, welche eine entfernte Ähnlichkeit mit der Konstantinlegende aufweist, und eine bisher unbeachtet gebliebene Geschichte ‘Von eynem vorster und von seynem son, den eyn Kaiser (Hanybal) töten wolt’, welche in einigen Handschriften der Gesta Romanorum die Heinrichslegende ersetzt und eng mit ihr verwandt scheint. Dieselbe findet sich lateinisch bei W. Dick (cap. 149 S. 106), deutsch bei Keller (nr. 40 S. 59), böhmisch bei J. V. Novák (nr. 41 S. 48). Wir können uns mit derselben in dieser knappen Übersicht leider nicht näher befassen, obwohl sich ein Vergleich derselben mit der Heinrichslegende lohnen würde.

Der türkische Roman, welcher zuerst im 17. Jahrhundert in dem Buche der Wundergeschichten von Suhaili erscheint und als Beispiel für das Sprichwort: ‘Wer einem anderen die Grube gräbt…’ dienen soll, zeigt eine sonderbare Kreuzung der indischen und äthiopischen Motive. Dem Schema nach steht er am nächsten dem jainistischen Čampakaroman. Ein reicher Kaufmann tötet (seine eifersüchtige Frau fürchtend) eine Sklavin, welche ihm einen Knaben geboren hat, und setzt den Säugling in der Wüste aus. Der Knabe wird von einem Hirten gefunden, nach 4–5 Jahren von dem Vater erkannt und ins Meer geworfen. Der Reiche ist hier also selbst Vater des unehelichen Kindes, und die Aussetzung der indischen Texte wird mit dem Werfen ins Meer verbunden. Der Knabe wird von Fischern gerettet und bekommt seinen Namen nach dem Sack, in welchem er gefunden wurde. Nach Jahren kommt der Kaufmann zu den Fischern und schickt den Jüngling mit dem Todesbrief zu sich nach Hause. Der Brief wird von seiner Tochter abgeändert, der Heiratsauftrag von der Mutter ausgeführt. Nach seiner Rückkehr dingt der Kaufmann Mörder; die junge Frau warnt jedoch ihren Gatten, und der Schwiegervater fällt selbst dem Anschlag zum Opfer. Diese Geschichte scheint einen älteren Text erhalten zu haben, als die äthiopische Legende. Die Verbindung der Aussetzung mit dem Werfen ins Meer war allem Anscheine nach auch in der Vorlage der Legende (der Knabe wird von einem Hirten gefunden) vorhanden. Das in der Einleitung erwähnte Sprichwort erscheint auch in dem Schlusskapitel des Čandrahâsaromans. Schick führt noch eine andere westeuropäische Fassung, aus dem 12. Jahrhundert, an: die Amlethgeschichte des Saxo Grammatikus. Diese betrifft aber hauptsächlich das Motiv des Todesbriefes und kann für die Entwicklungsgeschichte der Erzählung von dem Schicksalskind nicht verwendet werden.

Es findet sich jedoch in Europa eine andere Erzählung, welche die buddhistischen Texte an Alter übertrifft und für die ursprüngliche Zusammensetzung des Stoffes neue Anhaltspunkte liefern kann. Dieselbe

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Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 29. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1919, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_29_027.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)