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nicht ganz zu seinem Recht, und die rekonstruierte Urform spiegelt dann mehr, als sie dürfte, den europäischen Zustand wider.

Endlich ist noch darauf hinzuweisen, dass die Ordnung der Märchen nach K. Krohns System[1] lediglich nach der sprachlichen Verwandtschaft der Völker, bei denen die betreffenden Märchen aufgezählt wurden, nicht sachlich ist. Die stofflichen Beziehungen zwischen den Varianten, auf die hier doch besonderer Wert gelegt wird, geraten dadurch leicht in eine falsche Beleuchtung, worauf Polívka[2] bereits aufmerksam machte. Man sollte z. B. rumänische Varianten nicht mit den spanischen, portugiesischen, französischen und italienischen zusammentun, sondern sie vereint mit den übrigen balkanischen betrachten; die magyarischen haben gewiss nichts mit den finnischen gemeinsam, sondern stehn unter dem Einfluss ihrer Nachbarn; die westslawischen dürften von den ostslawischen durchaus zu trennen sein, denn erstere sind mit den westeuropäischen viel näher verwandt; man denke an die isolierten Wenden und Kaschuben, aber auch an Čechen und Polen.

Polívka verlangt mit Recht eine organische Einteilung nach Kulturzentren, denn weder eine linguistische noch eine geographische ist allein imstande, die stoffliche Verwandtschaft klar hervortreten zu lassen. Dass sich aber die Märchen vor allem mit der Kultur verbreiten und über Sprachgrenzen leicht hinüberwandern, das haben ja gerade auch die finnischen Forscher mit voller Deutlichkeit gezeigt.

Die vergleichende Methode hat sich unbezweifelbare, grosse Verdienste um die Märchenforschung erworben. Sie hat ihr neue Wege gewiesen und gewann auf ihnen wertvolle Erkenntnisse. Manches Vorurteil ist durch sie gefallen, und nebelhafte Hypothesen hielten den klaren Prinzipien der Methode nicht stand. Die vergleichende Forschung hat uns das Märchen in seiner ganzen Erdenhaftigkeit näher gebracht. Sie lehrt das einfache innere Leben dieser Gebilde verstehn, das in allem so ganz von den Zwecken anspruchsloser volkstümlicher Unterhaltung beherrscht wird, und sie erlaubt dank einer durchdachten Technik recht zuverlässige Schlüsse auf die Heimat, die Urform und die Wanderwege der Märchen zu ziehen, wenn auch im einzelnen noch manches unerklärt bleiben musste. So ist die eigentliche Domäne der vergleichenden Forschung das mündlich weitverbreitete Märchen geworden. Sie meistert selbst ungeheure Massen, scheidet mit Scharfsinn die häufig kontaminierten Themata voneinander und geht mit feinem Gefühl auch den letzten Verästelungen nach.

Fremder steht sie dem schriftlich fixierten Märchen gegenüber und beurteilt die Fäden kaum richtig, die zur mündlichen Überlieferung hinüberführen.


  1. Aarne, Leitfaden S. 66.
  2. Národop. Věstník 5, 34.
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_165.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)