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noch nicht für alle Feinheiten geschärft sein. Ihm war das formale Alter einer Überlieferung noch heilig, und er gab sich daher meist gar nicht erst die Mühe, in jungen Aufzeichnungen nach den Spuren innerer Altertümlichkeit zu suchen. Heute scheint man bereits in das andere Extrem verfallen zu wollen, indem man, wie Aarne, die Bedeutung literarischer Fassungen sehr gering anschlägt.

Es ist wohl möglich, dass hier noch ein wenig die romantische Auffassung mitspricht, eine Aufzeichnung bedeute das Ende des Volksmärchens[1]. Dass dem aber nicht so ist, weiss jeder, der im Orient gereist oder wenigstens einmal einen der schön illustrierten orientalischen Manuskriptbände sagen- und märchenhaften Inhalts in Händen gehabt hat. Diese Bücher sind in allererster Reihe zum Vorlesen bestimmt und sollen dem Publikum aller Schichten der Bevölkerung Unterhaltungsliteratur vermitteln. Jedermann kennt und liebt die alten Erzählungen, denn man lauscht dort dem Vorleser mit lebhaftester Spannung. Kein Wunder daher, dass die beliebtesten Stücke von den Hörern gern auf eigene Weise immer wieder neu erzählt werden. Die literarischen Fassungen sind daher nicht tot, sondern stehn in lebendigster Wechselwirkung mit der mündlichen Überlieferung, die sich an ihnen stärkt und auffrischt. Und dadurch, dass die ältere orientalische Literatur in zahlreichen Bearbeitungen und Übersetzungen bei den benachbarten Völkern verbreitet war und ist, übt sie auch auf die mündliche Überlieferung der Nachbarn einen tiefgehnden Einfluss aus, man braucht nur auf China, die Mongolei, Sibirien, den Kaukasus und Nordafrika hinzuweisen.

Ganz ähnlich liegen aber auch die Verhältnisse im näheren Osten und in Europa. Man denke nur an das Alte Testament, an die Apokryphen, an die äsopische Tradition, an Herodot, an die Literatur über Alexander den Grossen, an die mittellateinischen Autoren und anonymen Sammlungen – sind sie nicht dank ihrer weiten Verbreitung von tiefstem Einfluss auch auf die volkstümliche Tradition zahlreicher Völker gewesen? Die alten italienischen Sammlungen haben nach allen Richtungen hin und selbst bis ins östlichste Europa gewirkt; das Aladdinmärchen aus 1001 Nacht ist in volkstümlichen Varianten, wie Aarne selber zeigt[2], weit verbreitet; die mittelalterlichen Predigtsammlungen, auch Bebel, Montanus, Perrault bis hinauf zu Grimms in der ganzen Welt wiedererzählten Märchen – sie alle haben ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Die Kodifikation bedeutet also gewiss nicht den Tod, sondern frisches Leben, das durch Vorleser und Zuhörer immer wieder neu erzeugt wird. Das


  1. Achim von Arnim an Jacob Grimm am 22. Oktober 1812: „Fixierte Märchen würden endlich der Tod der gesamten Märchenwelt sein“ (Steig S. 223).
  2. Vergleichende Märchenforschungen S. 64 ff.; s. a. F F Communications 15, 73 (Der tiersprachenkundige Mann).
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_163.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)