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Ringes ist, welchen Charakter er hat und worin die Gründe seiner Handlungsweise bestehen. Aarne spielt wohl einmal darauf an[1], dass in den europäischen Varianten meist ein früherer Bräutigam der Königstochter der spiritus rector sei, der das Mädchen zum Diebstahl anstiftet, lässt aber schliesslich die Frage nach der Person doch offen. Dagegen ist einzuwenden, dass sich in der Volkspoesie, wie Olrik als erster betont hat, das psychologische Interesse ganz besonders in Gegensätzen, in kontrastierenden Gestalten auszudrücken liebt; dass dem Helden immer ein Widerspieler gegenübergestellt wird, um auf die Hauptperson ein kräftiges Licht zu werfen. Man weiss auch, dass das Märchen Unbestimmtheiten nicht liebt, sondern von einer so wichtigen Person, wie dem Gegner des Helden, gern scharfumrissene Konturen zeichnet. Es ist also von vornhinein recht unwahrscheinlich, dass im obigen Beispiel nur die blasse Silhouette eines ‘Diebes’ auftauchen sollte. Tatsächlich geben aber die Varianten genügend Anhalt, um die Gestalt des Diebes auf einen ganz bestimmten Typus zurückzuführen.

Sieht man von den zahllosen finnischen Fassungen ab, wo immer vom früheren Bräutigam die Rede ist, so bleiben noch 19 Fassungen aus Europa, Asien und Afrika, auch der Pentamerone und 1001 Nacht, wo ein Freier genannt oder auf ihn angespielt wird. Meistens ist es auch hier eine der Königstochter bekannte Person, in den beiden indischen Fassungen Ja 1 und 2 und einigen andern ist es aber ein Mann, von dem sie gar nichts weiss.

Aarne sagt sehr richtig, indem er andere Beweise heranzieht[2], dass die Königstochter ursprünglich nichts verbrochen hat, betont aber nicht, worauf es hier ankommt, dass die Person des Nebenbuhlers zweifellos die Hauptrolle bei der Entwendung des Ringes gespielt hat, wie die gewichtigsten Varianten es deutlich verraten.

Unklar ist Aarnes Stellung zur Benfeyschen Theorie der Entstehung der meisten Märchen in Indien. Einmal sagt er, Benfeys Ansicht habe „alle ihre Bedeutung verloren, nachdem die Forschung erwiesen hat, dass viele Märchen anderswo als in Indien entstanden sind“[3], andererseits gibt er aber doch zu, „dass Indien, dem einige für die Entstehung der Märchen beinahe alle Bedeutung haben absprechen wollen, doch einen bemerkenswerten Anteil an ihrer Schöpfung hat“[4]. Aarne wird in seinem Urteil Benfey nicht gerecht. Das volkstümliche Material der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts reichte freilich noch nicht aus, um aus ihm sichere Schlüsse auf Heimat und Verbreitung zu ziehen, und die Forschung über die ältere literarische Überlieferung stak noch in den Kinderschuhen.


Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_161.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)