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von den Nachbarvölkern so lange und so viel beneidete, nicht auch da als Leuchte der Freiheit und der Anerkennung der Existenzberechtigung jeder menschlichen Individualität hineinzündete in das wirkliche Elend der Massenarmuth, des Massenproletariats anderwärts? Sollte es nicht möglich sein, daß gerade dieses Gesetz, das ja auch das Volk sich gibt – nicht die von internationalen Emissären gehetzten und irregeleiteten Arbeiterklassen und nicht die ängstlich und mißtrauisch gewordene Industrie – daß gerade dieses Gesetz das durch Neid und Mißgunst auf der einen, durch Mißtrauen und wohl auch gar oft durch rücksichtslosen Egoismus und Gewinnsucht auf der andern Seite gelockerte Band wieder fester zu knüpfen vermöchte, ihre gegenseitigen Interessen versöhnend?

Man fürchtet die nimmer ruhende Agitation, die unbefriedigt mit den ertrotzten Konzessionen immer weiter und weiter drängen wird und die soziale Bewegung doch nicht zur Ruhe kommen läßt!

Gewiß hat das seine Richtigkeit. Allein warum denn die Agitation so sehr fürchten? Ist sie nicht Bedingung des Lebens, der Entwicklung gerade in der Republik? Die soziale Gährung, die uns einer neuen schönern Zeit entgegenführt: warum sollte sie sich nicht auch bei uns geltend machen? Haben wir dieselbe mehr oder auch nur so zu fürchten, wie in jenen monarchischen Staaten, wo die politische Freiheit des Bürgers noch lange nicht zur Wahrheit geworden, wohl aber wirkliches soziales Elend ernste, bittere Wahrheit ist? Haben wir nicht ein kerngesundes, praktisch nüchternes Volk? Man braucht es deßhalb ja nicht „hochgebildet“

Empfohlene Zitierweise:
Carl Zehnder: Aerztliche Glossen zum Fabrikgesetz-Entwurf : mit Anhang. Cäsar, Zürich 1876, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:ZehnderAerztlicheGlossen.pdf/42&oldid=- (Version vom 1.8.2018)