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in Deutschland eine seltne Ausnahme. Es würden also viele Frauen studiren und nur wenige ihren Beruf ausüben können, somit eine Summe von Geld, Zeit und Kraft verloren gehn, die anderweitig beßer angewendet werden könten. Daß eine Frau überhaupt aus Not zum Studjum greift, komt schwerlich vor, sie studirt eben lediglich aus Begeisterung oder um die Welt von ihren Fähigkeiten zu überzeugen.

Bisher jedenfalls ist ausschließlich von der gleichen geistigen Befähigung geredet, geschrieben aber weiter nichts bewiesen worden, als daß eine verschwindend kleine Zahl von Frauen Gymnasjen durchmachen, Examina ablegen und eventuell auch einen Beruf ausüben können. Voilà tout!

Weibliche Denker, Filosofen, Erfinder, kurz das „Weibschenie“ auf geistigem Gebiet ist uns noch nicht vorgeführt worden. Wenn man dies nur auszusprechen wagt, so wird unfehlbar Sonja Kowalewska[WS 1] zitirt. Gewiß, sie hat mehr gekont und mehr geleistet wie mancher begabte Mann, aber ihre Lebensgeschichte ist der beste Beweis für das vorhin Gesagte – wie sie selbst förmlich unter ihrer Begabung und Wißenschaft gelitten und sich nach ganz andrem Lebensinhalt gesehnt hat. Und überdies ist die Kowalewska eine Erscheinung, wie sie in Jahrhunderten vielleicht ein einziges Mal vorkomt, während es fast zu allen Zeiten genjal begabte Männer gegeben hat. Und daß von diesen Einer an dem Zwiespalt zwischen seiner eigentlichen Lebensanlage und seiner Wißenschaft zu Grunde gegangen wäre, ist mir nicht bekant.

In Kunst und Literatur ist es mit den weiblichen Leistungen vielleicht etwas beßer bestelt. Künstlerisches Gefühl, Geschmak etc. ist immerhin etwas, was sich bei der Frau noch eher findet wie überwiegendes Denken. Und doch, – was ist denn bis jezt auf künstlerischem Gebiet von Frauen geleistet worden? Hier und da ein gutes Porträt, eine fein empfundne Landschaft oder ein wirklich lebenswahrer Roman – aber wo ist etwas Hervorragendes, wovor man unwillkürlich stehen bleibt, was einen wirklich pakt und bis ins Innerste hinein durchschauert? Wie zum Beispiel bei Klinger, Rops, Dostojewsky, Garborg, Hamsun? –

„Ja, aber Marie Baschkirzew![WS 2] erwidert der Kohr der Frauenrechtlerinnen. – Wieder nur Eine, eine Ausnahme, ein Fänomen, weil in ihr sich Schönheit, Erotik und leidenschaftliche Begabung vereinigt – ein Fänomen von dem man aber nicht weiß, was schließlich noch daraus geworden wäre: eine große Künstlerin, eine große Geliebte, oder beides – oder keines von beidem.

Eine Frau, die in der Kunst etwas leisten will, sich berufen fühlt, darin etwas zu leisten, hängt mehr wie bei allen andren Berufsarten davon ab, wie sie zum Leben steht. Wer das Leben nicht kent, wer nicht Schuld und Schmerzen, wer nicht Verzweiflung und schwindelndes Glük an sich selbst erfahren hat, wird nie und nimmer etwas schreiben oder bilden können, was in der Seele anderer die tiefen Schauer des Lebens auslöst. Wo das nicht der Fall ist, kann auch nicht von Kunst gesprochen werden.

Es gibt aber doch Frauen genug, die das Leben kennen gelernt haben in all seinen Höhen und Tiefen, wird man mir einwenden. Ja, die gibt es, aber meist bleiben sie als gebrochne Existenzen am Wege liegen, wenn sie nicht wenigstens die Mittel besizen, um ganz unabhängig zu leben, jeder Kritik und jedem Lästermaul die Stirne zu bieten, mit einem Wort: um auf die Gesellschaft zu pfeifen. Denn alle tiefgehenden Erlebniße nehmen die Frau, eben infolge ihrer fisischen Beschaffenheit mehr mit wie den Mann. Und dann: jede Frau

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Sofja Kowalewskaja (1850–1891), russische Mathematikerin.
  2. Marija Baschkirzewa (1858–1884), russische Malerin. Nach der Scheidung ihrer Eltern zog sie mit der Mutter und mehreren Verwandten 1870 nach Frankreich, studierte in Paris Malerei als Schülerin von Tony Robert Fleury und Rodolphe Julian. (erste Arbeiten unter den Pseudonymen Russ und Andrei). Später arbeitete sie unter der Leitung von Jules Bastien-Lepage. 1878 begann sie zu kränkeln. Sie führte seit 1873 ein überaus regelmäßiges Tagebuch in französischer Sprache. Als sie am 31. Oktober 1884 in Paris an Tuberkulose stirbt, hinterlässt sie neben ihrem malerischen Werk 106 Hefte und Bücher mit Tagebuchaufzeichnungen, die Marie Bashkirtseffs Suche nach künstlerischen Vorbildern aufzeigen und bis heute weitgehend unbekannte Informationen über das Pariser Kunstgeschehen im ausgehenden 19. Jahrhundert vermitteln.
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Panizza u. a.: Zürcher Diskußjonen. Zürich, Paris: , 1897–1900, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Z%C3%BCrcher_Disku%C3%9Fjonen_(22)_005.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2018)