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Viele Diener fahren auf der manège mit. – Aus dem oberen Stokwerk biegen sich die Köpfe. – Sie wollen sehen, was los ist – nur die geübten Reiterinnen in ihren prachtvollen Kleidern, mit ihren hohen Straußenfedern und winzigen Füßchen, überundüber vollgestäubt mit Oransche, bliken mit unveränderlichem Gleichmut durch den Dunst, die Schlacht und das Geschrei, auf diese Heerde von Tausenden von lapins, die da herumstehen ..... Ich wende mich ab. Das Herz zittert Einem. – Ich steige wieder hinauf in meine stille Stube zu den Aebtißinnen. Es war nur ein Augenblik welterschütternder, herzerzitternder Freude, den ich gesehen. Nur ein Ausschnitt aus diesem großen Jahrmarkt der Leidenschaften. Das erstrekt sich auf fast ½ Stunde so fort. Es sind nicht die verlokenden Phrynen-Tänze des Jardin Mabille[WS 1] und Moulin Rouge. Es ist die gallische, überschäumende Lustbarkeit des Volkes. Alles zittert hier. Alles ist nervös. Mitten unter die Tausende, die da herumstehen, die da umherfluten, ein Wort, ein Funke geworfen – und sofort blizt es los. Die marseillaise! Allons enfants de la patrie! Mitten hinweg von den Karußells, von der meilenweiten Lustbarkeit, stürzt das Volk, die Damen springen von ihren Kaninchen, ihren Pfauen, ihren Straußen, auf denen sie stolz ritten, und Alles läuft heulend zum Staatsoberhaupt, in’s Elysée, schreit und stelt ihn zur Rede, schüzt die Freiheit, – am nächsten Tag ist das Ministerjum gestürzt, das Staatsoberhaupt ist gestürzt, der Präsident oder der König, wer gerade die Dummheit gemacht ..... und dann kehrt das Volk lachend, singend zu seiner Arbeit, zu seiner Lustbarkeit, zu seinen Kaninchen zurük ..... Und dieses Volk, meint Ihr, hat Euch nichts mehr zu lehren? Ist jezt tot für Euch? Schneidert Euch nur noch Eure Kleider und zeigt Euch, wie man Romane schreibt? – glaubt mir, dieses Volk lebt, es lebt heute stärker als jemals, Ihr könt nicht ohne es existiren in Europa – mindestens müßte es Euch doch noch lehren, wie man die Freiheit erobert! – es lebt und es lebe, vive la France! –

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[WS: Der Anzeigentext wurde nicht transkribiert.]



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jardin Mabille: einer der berühmten Bals de Paris. In einem Park an der Champs-Élysées gelegen, war der Jardin Mabille zu seiner Zeit ein Anziehungspunkt für Tausende von Parisern und viele Touristen (darunter Mark Twain und Ambrose Bierce). Jardin Mabille wurde zu einem Synonym für wildes, exzessives Tanzvergnügen. Jules Verne in seiner Reise zum Mond vergleicht die in der Schwerelosigkeit durcheinander purzelnden Passagiere des Raumschiffs mit den Tänzern des Jardin Mabille.
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Panizza u. a.: Zürcher Diskußjonen. Zürich, Paris: , 1897–1900, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Z%C3%BCrcher_Disku%C3%9Fjonen_(18%E2%80%9319)_016.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)