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Intra muros et extra.


Paris, den 14. November 1899. Seit etwa 14 Tagen haben wir Fête auf Montmartre. Montmartre ist das Quartier, in dem ich wohne. Alle Bänkelsänger, Honigverkäufer, Glüksradbesizer, Menascherien, Karußell-Halter, Straßenfotograföre und Wachsfigurenkabinette aus dem departement Seine et Oise haben sich versammelt. Viele hundert Buden. Boulevard Clichy, Place Pigalle, Boulevard Rochechouart, Boulevard de la Chapelle – eine halbe Stunde lang – steht Bude an Bude. Man zeigt auch le mariage interrompu, den Bauchtanz, und das Giljotiniren mit lebensgroßen wirklichen Menschen. – Wunderschön! – Ich verlaße meine stille Studirstube bei den Aebtißinnen – rue des Abbesses – geblendet von all’ dem Feuerschein – und steige hinunter durch die rue des Martyrs – ein Rudel weißer, lebensgroßer Hasen stürzt mir entgegen – ich fahre zurük – was ist das? Bin ich in den Wald Brozeliande[WS 1] geraten, wo Merlin mit Viviane ihren Spuk treiben? – Schneeweiße Hasen, lapins, – was sagte ich: lebensgroß? – sechsfach lebensgroß, wie Hirsche, ca. 500 Stük, in gestrektem Lauf, sie tragen alle einen Louis d’or im Maul, groß wie einen goldenen Teller, haben rote Schabraken mit goldenem Zaumzeug, und sausen dahin, als wäre der wilde Jäger ihnen auf der Ferse. – Ich trete näher: es ist ein Karußell! Hoch postirt, in greller elektrischer Beleuchtung, fahren sie dahin, je fünf nebeneinander, mit ihren prachtvollen langen weißen Ohren. Die Musik spielt Gounod’s „Faust“. – Es sind ca. 80 Musiker irgendwo verstekt. Ein Orchester. Halt! nein, es ist eine Orgel. – Jeder schneeweiße lapin hat eine schneeweiße Bogenlampe über sich, die sich mitbewegt. Alles ist schneeweis. Die Musik spielt Gounod’s „Faust“. – Der lapin – der Hase – nein der lapin! – das Kaninchen – spielt im Herzen und Kopfe der Pariser und Pariserinnen eine wichtige Rolle. Die Simbolik des lapin ist unermeßlich. Aus einem ursprünglich fruchtbaren Gedanken ist er zu gräßlich-komischer Bedeutung gelangt. Alles ist lapin. Jede Situazjon, die Schwierigkeiten und Verwiklungen mit sich bringt, und die man nicht länger beschreiben kann, oder will, ist lapin. Der lapin ist also eine Situazjon. Ein Ereignis. Wenn Jemand sich irgendetwas erhoft, und es trift nicht ein, c’est un lapin! – ein Karnikel. Wenn eine Dame einen Hern liebt in der Hofnung, daß er reich sei, und es zeigt sich dann nach der Heirat, daß er das nicht ist – c’est un lapin! Wenn eine Dame einen Hern liebt, der reich ist, in der Hofnung, bei ihm Liebe zu finden, und sie findet sie dann nicht – c’est un lapin! Alle Hern sind a priori, ohne daß man Näheres von ihnen weiß, und einerlei, wie sie auch beschaffen sein mögen, des lapins. Der lapin ist aber das Lieblingstier aller Damen. Der lapin ist immer sehr dumm – wenn er ein Herr ist, einerlei ob er gescheid ist. Der lapin, das Karnikel, wurde wegen seiner ungeheuren Fruchtbarkeit das Lieblingstier der Damen, und alles Uebrige hat sich dann daraus entwikelt. – Die Damen haben jezt Alle Plaz genommen. Jede sizt auf einem schneeweißen Tier. Sie halten sich an den langen Ohren fest. Die Musik spielt Gounod’s „Faust“. Sie richten ihre Röke und Kleider und zeigen die berühmten kleinen Pariser Füße. Mit ungeheurem Stolz sizen die Mädchen so hoch da droben, und laßen die Straußenfedern auf ihren Hüten wallen. Die Königin aus dem Feenlande mit ihrem Geklingel vor dem weißen Schlitten, die Walter Scott beschreibt, konte nicht gnädiger dreinschauen, als diese stolzen Damen. Sausend begint jezt der Galopp. Die Hasen machen eine dreifache Bewegung. Sie reiten auf und ab wie Schaukelpferde, sie machen einen hastigen Sprung vorwärts, und zum dritten reißt sie die manège herum. Unter den ca. 500 Tieren entdeke ich allein sechs verschiedene Leibesposizjonen, die auf Rechnung des Skulptörs kommen ..... Ein Schreien ..... ein furchtbares lautes Schreien ..... dort, auf der Seite ....... dort fahren ein oder zwei Damen zum erstenmal – die Maschinerie schleudert sie vorwärts – jezt kommen sie vorüber – in den Mienen die gräßliche Angst – sie halten sich krampfhaft an den langen Ohren fest – die Musik spielt Gounod’s „Faust“ – ja, meine Damen, so springt der Hase! – der Inschenjör des Karußells hat keinen Fehler gemacht! – Alles lacht – tausendköpfig steht die Menge herum, fast lauter Hern, lauter lapins – Alles lacht – Alles schreit! – Dort reitet auch ein Herr mit, er hat eine blaue Krawatte – es wird immer toller – große farbige Papierschlangen werden aus dem Innern des Karußells, vom Podjum, wo nur feinere Hern zugelaßen werden, über die Damen auf die Menge geworfen – und auch von der Galerie des Karußells, hoch über den Damen – der Karußell ist eine kleine Stadt – werden Papierschlangen auf die Reiterinnen geworfen – die Damen verstriken sich – ganze Garben von Oransche-Bändern fegen hinter den Damen her – der Wald von Brozeliande – die Musik spielt Gounod’s „Faust“ – dort fährt die blaue Krawatte! – ein Geschrei, ein Geschrei – das Tempo wird wahnsinnig schnell – Herr Direktor, Herr Direktor! lassen Sie einhalten! – zwei Damen fallen! – Es geht nicht – man kann jezt nicht halten – zwei Diener springen hinzu – Alles schaut –

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der Sage nach wurde im Wald von Brocéliande der Zauberer Merlin von Nimue in eine Weissdornhecke gebannt, nachdem er ihr die Quellen seiner Zauberkräfte offenbart hatte. Die junge Zauberin Nimue wird mit Viviane, der Herrin vom See identifiziert.
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Panizza u. a.: Zürcher Diskußjonen. Zürich, Paris: , 1897–1900, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Z%C3%BCrcher_Disku%C3%9Fjonen_(18%E2%80%9319)_015.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)