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Autoren, wie der englische Romanschriftsteller Tobias Smolett (in seinem „Roderick Random“ 1748)[WS 1], von Ramdohr (Venus Urania, über die Natur der Liebe, 3 Teile, Leipzig 1798–99), Heinse (in der Vorrede zu „Begebenheiten des Encolp“, Rom 1773), Hösli [WS 2] (Eros, 2 Bde. Glarus 1836–38), Schopenhauer (Parerga und Paralipomena, Berlin 1851) auf die Knabenliebe zu sprechen kommen, und ihre tiefere, zwangsmäßige Fundirung im menschlichen Organismus ahnen. Im Uebrigen stellen sich aber alle diese Forscher noch durchaus negativ zu dem Gegenstand. Es ist daher ganz unrichtig, wenn Krafft-Ebing in seinem Vorwort zu Moll, „Die konträre Sexualempfindung“, Berlin 1891, sagt: „Der medizinischen Forschung gebührt hier das Verdienst, aufklärend gewirkt und der Wahrheit, dem Recht und der Humanität zum Sieg verholfen zu haben“ (Seite V). Im Jahre 1864, als in England und Amerika noch Totesstrafe auf päderastischen Umgang stand, hatte sich noch kein Arzt für das natürliche Vorkommen dieser Spielart ausgesprochen. Casper ist über die Erkentnis, daß es sich um eine angeborene krankhafte Anomalie handle, nicht hinausgekommen. Sein von Liman bearbeitetes „Handbuch der gerichtlichen Medizin“ nent die Knabenliebe noch in der 6. Auflage vom Jahr 1876 ein „Laster“, ein „schauerliches Geheimnis“, ein „Verbrechen“, einen „traurigen Vorzug der Menschenspezies“ (Seite 180–182). Sehr viel beßer ist das nicht, als Carpzovius. Daß in Deutschland wenigstens die übergroße Mehrzahl der Forscher auf Ulrichs ruhen, zeigt der Umstand, daß dieselben sich die Ansichten Ulrichs bis auf deßen Nomenklatur angeeignet haben. Dagegen verdanken wir allerdings Krafft-Ebing selbst ein nicht hoch genug zu schäzendes Werk über die hier in Rede stehende Materje, seine „Psichopatia sexualis“, aber erst im Jahre 1886. Und hier, wo die psychologisch-ästhetische Würdigung dieser Menschenspezies für uns im Vordergrunde steht, muß insonderheit der überausgroße Wert hervorgehoben werden, den die Selbst-Biografieen von Urningen, die seinem Buche beigegeben sind, für die seelische Erkentnis dieser intereßanten Zwittergeschöpfe besizen. Hier zeigte sich zum erstenmale auf Grund von in lauterster Ehrlichkeit abgegebenen Selbst-Bekentnißen, daß die Urninge eine überaus feinfühlige, zartbeanlagte, Schmetterling-gleiche, in der übergroßen Zahl der Fälle vor jedem grobsinlichen, karnalen Verkehr zurükschrekende, mit äußeren Simbolen sich begnügende, für Alles Rein-Gefühlsmäßige, für Musik, Poesie, Kunst, ästetische und filosofische Fragen eminent begeisterte und sehr oft begabte Menschenklaße darstellen, – eine Menschenart, deren Empfindungsleben vom Weib vielleicht geahnt, vom normalen, heterosexualen, brutal-sinlichen Mann kaum verstanden werden kann – wobei sich nun ganz neue Beziehungen des Urningtums für das Kunstleben ergaben, in der Richtung, daß der Urning, weit entfernt nach dieser Richtung als minderwertig, eher als prädestinatorisch begabt angesehen werden mußte, und nun weiterhin von hier aus ganz neue Perspektiven für die Betrachtung der griechischen Kunst, der gesamten antiken Kultur, sich ergaben.

Versuchen wir auf dem Hintergrund dieser spärlichen fisjologischen und filosofisch-ästetischen Bemerkungen den literarischen Streit Heine’s und Platen’s, in dem sich zwei markante Tipen dieser grundverschiedenen Gefühlsweise gegenübertraten und sich das Gesicht zerkrazten, auf’s Neue zu beleuchten, sozusagen von unserem heutigen Standpunkt eines beßeren Verständnißes des Urningtums zu revidiren. Dabei komt nun vor Allem in Betracht, daß der Urning, entsprechend seiner heimlichen, feinfühligen, verschloßenen Natur überhaupt kein Polemiker ist, Platen also schon von Haus aus mit zu geringen Kräften sich in den Kampf einließ, während der sinlich-strozende Heine natürlich mit dem dem heterosexualen Tipus angeborenen Elan sich auf den Gegner stürzte. Aber wenn nur Platen, abgesehen von seiner mangelnden Begabung für gewalttätige, höhnische und satirische Kampfmittel, wenigstens auf seinem eigenen Gebiet, dem Gebiet seines serjösen, dichterischen Schaffens, als klaßischer Dichter, auf eine große Leistung hätte hinweisen können, etwa so wie Goethe, dann konte ihn der frivol-agreßive, vor keiner Konsequenz zurükschrekende, auf seine erotische Vollkraft pochende Gegner noch immer nicht aus dem Sattel heben. Aber Platen konte eben auf keine große Leistung hinweisen. Er gehörte zu jenen achtungswerten, mäßig-begabten Dichtern, die der Welt wenig zu sagen haben und dieses Wenig durch eine möglichst korekte, tadelfreie Form zu verdeken suchen, die von Literarhistorikern in Schuz genommen, und deren Auflagen von Schul-Rektoren, Preis-Richtern und Konfirmazjonsgeschenk-Verteilern in die Hand genommen werden müßen, mit einem Wort zu jenen Dichtern, die das Publikum „langweilig“ nent. In allen diesen Punkten war Heine das gerade Gegenteil.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Zu den Nebenfiguren in Tobias Smolletts (1721–1771) Erstlingsroman The Adventures of Roderick Random (1748) zählen die negativ als homosexuelle Stereotypen dargestellten Captain Whiffle und Earl Strutwell. Laut Robinson (2006) handelt es sich bei den beiden um »the two most famous homosexual characters in eighteenth-century English fiction«. Vgl. David M. Robinson: Closeted Writing and Lesbian and Gay Literature: Classical, Early Modern, Eighteenth-century. Ashgate, Aldershot 2006, ISBN 978-0-7546-5550-3.
  2. Heinrich Hösli [Hössli] (1784–1864), Tuchhändler in Glarus.
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Panizza u. a.: Zürcher Diskußjonen. Zürich, Paris: , 1897–1900, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Z%C3%BCrcher_Disku%C3%9Fjonen_(16%E2%80%9317)_004.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)