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Gewiß, das große, unbarmherzige Gesez unserer menschlichen Ordnung und Fortpflanzung, und der direkt von ihr abhängigen Geistesrichtung und Seelenstimmung, ist das der Hetero-Nomität auf geschlechtlichem Gebiet, das der in sexuellen und geistigen Gegensäzen sich aussprechenden menschlichen Anlage, aber dies ist biologisch betrachtet nur eine Zufallsstufe, wenn auch eine in der Entwiklung sehr hochstehende Stufe, – die Natur leistet alle übrigen Spielarten und Fortpflanzungs-Möglichkeiten, alle übrigen Mischungen und Verbindungsmöglichkeiten. Bienen und Wespen und viele andere Gattungen aus der niederen Tierwelt pflanzen sich nicht nur in zweigeschlechtlichem, sondern auch in eingeschlechtlichem Tipus fort, andere haben den zwei-geschlechtlichen Aparat als Zwitter in einem einzigen Individuum vereinigt, und wenn auch die hohe Stufe des in entgegengesezten Geschlechtern auseinandergetretenen Menschentipus, auf dem unsere ganze Kultur beruht, offen und klar zu Tage liegt, warum sollen sich nicht unter den Menschen ähnlich wie unter den Bienen gewisse Tipen absondern, die sich, wie die Arbeits-Biene, geschlechtlich gar nicht beteiligen, nur Honig und Waben bauen, nur Geist und Aestetik konstruiren, und dann nach vollbrachter Lebensaufgabe friedlich, reinlich und ehrbar sterben? Was sind denn beispielsweise unsere großen Filosofen und Dichter wie Nietzsche und Kant, die sich dem Geschlechtsgenuß, wie Schopenhauer und Goethe, die sich wenigstens der Ehe, entzogen, Anderes, als Arbeits-Bienen, die die Fortpflanzung und Erhaltung der Menschenraße anderen, grobsinlicheren Individuen überlaßend, nur geistig produzirten, und die Unsterblichkeit im Reiche der Ideen, der Unsterblichkeit im Reiche der Leiber vorzogen? Solte es nicht auch auf rein künstlerischem, rein ästetischem Gebiet solche Arbeits-Bienen geben, die, wie Queen Mab und Oberon aus spinnwebartigem Geistesstoff gebaut, ihren Geschlechts-Aparat mehrweniger neglischiren, oder nach ihrer launischen, seltsamen Art verwenden, jedenfalls ihn nicht mit dem gegensätzlichen Pol eines anderen Individuums zur Erzeugung von Nachkommenschaft verwenden, dafür nun aber rein geistig, rein nach dem Schönheitsbegriff, oder doch rein ästetisch erzeugen, nur Honig und kunstvolle Waben ihren Mitmenschen darbieten? Und soll man diese sensiblen, hoch-geistig veranlagten, wie Zitter-Aale organisirten Individuen um dieses in ihnen unabänderlich wirkenden Gesezes halber ihren roheren Brüdern zur Knebelung und Beschimpfung übergeben und hinter Gefängnismauern verschmachten laßen?

Sehen wir zu, wie die Erkentnis und Beurteilung dieser seltsamen Menschenspezjes sich im Laufe dieses Jahrhunderts bei uns im Abendlande Bahn gebrochen hat. Noch die constitutio criminalis Theresiana vom Jahr 1769 bestimt, daß „ein Knabenschänder, oder aber, da sonst ein Mensch mit dem anderen sodomitische Sünd getrieben hätte, der soll anfangs enthauptet, und nachfolgends deßen Körper samt dem Kopfe verbrennet werden.“[1] Natürlich steht der berüchtigte und allerchristlichste Sächsische Rechtslehrer Benedikt Carpzov noch auf demselben Standpunkt, obwol er weiß, daß „dieses Verbrechen durch ganz Italien weltbekant ist, und daß der Erzbischof von Benevent und päpstliche Legat Giovanni della Casa es durch seine Dichtungen auch noch verherlicht hat.“[2] Er meint, daß es ein zum Himmel schreiendes Verbrechen sei – foedam malignitatem in coelum usque clamare – welches dem christlichen Glauben einen nimmer zu tilgenden Schandfleck einbrenne – fidei Christianae maculam fere non extinguendam inurit – und dasselbe sonach jedenfalls mit Köpfen zu bestrafen sei.[3] Es ist bemerkenswert, daß, je älter und reifer eine Kultur wird, um so milder die Anschauungen über die Kriminabilität dieser erotischen Neigung sind. In England und Amerika wurde Päderastie noch bis in die jüngsten Zeiten mit dem Tote bedroht und bestraft. Das preußische Strafgesez der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, also etwa gleichzeitig mit der constitutio criminalis Theresiana, bestimt nur „langjährige Zuchthausstrafe und ewige Verbannung“ (Casper’s Handbuch der gerichtl. Medizin, bearb. v. Liman, 6. Aufl., Berlin 1876, S. 181). Mit Zuchthausstrafe begnügten sich dann die meisten abendländischen Gesezbücher in diesem Jahrhundert, so auch


  1. Constitutio criminalis Theresiana oder der Römisch-Kaiserl. zu Hungarn und Böheim etc. etc. Königl. Apost. Majestät Mariä Theresia, Erzherzogin zu Oesterreich, etc. etc. peinliche Gerichtsordnung. Wien 1769. S. 208.
  2. „Hoc facinus per Italiam notissimum est, adeo ut nec puduerit Joannem Casam, Archiepiscopum Beneventanum, Legatum Pontificium, hoc laudibus celebrare. At rarius a Germanis committitur, quibus laus et encomium pudicitiae, et quod tale scelus minus noverint per Dei gratiam, jure debetur.“ Bened. Carpzovii Practicae novae imperialis Saxonicae Rerum Criminalium pars secunda Lipsiae 1723, p. 178.
  3. „Qui venere abutitur, cum hominibus coëundo contra naturam, usu naturali relicto, capite truncandus est. l. c. p. 180.
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Panizza u. a.: Zürcher Diskußjonen. Zürich, Paris: , 1897–1900, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Z%C3%BCrcher_Disku%C3%9Fjonen_(16%E2%80%9317)_002.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)