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No. 16–17.  [Zweiter Jahrgang.]  1899.

 Nachdruk verboten.


Zürcher Diskuszionen.


Heine und Platen


eine Revisjon ihrer literarischen Prozeßakten


von Max Kaufmann (Hamburg).[WS 1]


Wie weit sind wir heute von der barbarisch-grobsinlichen Kampfesweise entfernt, mit der Heine seiner Zeit Platen in Grund und Boden wetterte, und welche Fortschritte haben wir inzwischen in der Abschäzung feiner künstlerischer und sitlicher Nüanßen gemacht. Ein Angriff, selbst in der zündend-wizigen Form eines Heine, den heute ein Künstler, oder Schriftsteller, oder irgend ein Polemiker gegen seinen ästetischen oder wißenschaftlichen Gegner unter der Devise „du bist ein Päderast, du bist ein Homosexualer, du bist Sexual-Perverser, du bist ein warmer Bruder!“, oder wie alle diese schönen und unschönen sexualen Fluchwörter heißen mögen, unternehmen wolte, würde höchstens beim Gallerie- oder Parterr-Publikum künstlerischen Empfangens eine Lache, beim Parkett- und Loschenpublikum aber eine entschiedene Remonstrazjon finden in dem Sinne: Greife Du Deinen Gegner auf künstlerischem, sachlichen, öffentlichen Gebiet, auf dem Gebiet seiner profeßjonellen Leistung, an, aber nicht auf Grund seiner homosexuellen Liebhabereien und Neigungen, die bei ihm ebenso das Resultat seiner Gesamt-Organisazjon sind, wie Deine hetero-sexuale Neigung die Folge Deiner inneren Anlage. Der Schluß: du bist ein Päderast, ergo sind deine Verse schlecht! fält heute platt zu Boden. Wir brauchen heute nur Namen wie Oskar Wilde, Paul Verlaine, Frank Wedekind, Max Dauthendey, George Rodenbach, die alle teils rein homosexuale Tipen, teils sujets mixtes, darstellen, zu nennen, und uns der eigentümlichen zart-filigranartigen Nüanße zu erinnern, die sie in die Literatur gebracht haben, Nüanßen, die wie Orchideen mit ihren schwebenden, wie aus Tau gebauten Kelchen in die mehr wurzelstämmigen Rosen und Schwertliljen des bekanten Kulturgartens hineinhängen, um zu verstehen, daß es sich hier nicht nur um patologische Leibes- und Geisteszustände, sondern auch um Neuschöpfungen auf ästetischem und seelischem Gebiet handelt. Und was wollen hier schließlich ein par beliebig herausgegriffene Namen sagen: die ganze literarische Schule der in den „Blättern für die Kunst“ zu Wort gekommenen literarisch-simbolistischen Richtung mit ihrer gläsernen, kristallharten Sprache, ihren fisch-artigen Empfindungen und ihrer aalglatten, seelischen Unberührtheit, deren Hauptvertreter in Wien wohnen, ruht auf einer unsinlichen, dem Verkehr mit dem Weib abgewanten, fast abstrakt-ästetischen Basis, und hat wol gerade dadurch einen großen Einfluß in unserem heutigen Kunstleben gewonnen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vermutlich ein Pseudonym Oskar Panizzas.
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Panizza u. a.: Zürcher Diskußjonen. Zürich, Paris: , 1897–1900, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Z%C3%BCrcher_Disku%C3%9Fjonen_(16%E2%80%9317)_001.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)