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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

stimmt zur Stille. − Und was sehen wir auf dem stillen See? Ein Schifflein, von mehreren seines gleichen begleitet, fährt dem jenseitigen, gadarenischen Gestade zu. Es ist kein Schiff auf allen Meeren dem Schifflein zu vergleichen: denn der HErr ist drinnen und Seine Jünger folgten Ihm in dasselbe, sind bei Ihm. Es ist kein See, kein Meer dem See Genezareth zu vergleichen, denn dieser trägt das Schifflein Christi, die Schale, in welcher die kostbare Perle Himmels und der Erde glänzt. Drum ist er wohl so schön, der See von Genezareth! Dachte der HErr daran, als Er ihn schuf, daß der Eingeborene an ihm wohnen, auf ihm fahren würde? Ist deshalb der See so feierlich und freundlich still, wie die Seele des heiligsten Erlösers selbst, deß Angesicht sich in seinen Waßern spiegelt. − Es ist sehr still! Der HErr ist müde, und Er entschläft. Sein heiliges Haupt ruht auf einem Kißen, Seinen heiligen Gliedern genügt das harte Lager im Hinterraume des Schiffs. Er entschläft auf dem Meere, das Ihn feiernd trägt. Engel und Menschen gelüstet es, diesen Schlafenden zu schauen. − Da erhebt sich mit einem Male ein Windwirbel und erregt ein Ungestüm im Meere. Der Wind wirft die Wellen ins Schiff, es wird voll und mit Wellen bedeckt und schwebt in großer Gefahr. Wer misgönnt dem Heiligen Gottes Seine Ruhe? Wars, wie die Alten sagten, der Satan, der solchen Unfrieden wirkte, und Christi Schifflein in den Sturm brachte? Merkte er, daß ihm und seiner Legion, die in dem Beseßenen jenseits am Gadarenerufer wohnte, eine Niederlage drohte? Wollte er Christi Wunder an dem Beseßenen vereiteln? − Es wird ihm nicht gelingen. Ungewohnter Sturm rast durch die Luft, der stille See ist wie eitel Brandung um das Schifflein her, das Schifflein ist voll Wellen: aber der HErr schläft mitten im Sturme. Alle Ruhe ist weggenommen: Seine Ruhe nicht, denn siehe, noch schläft Er. Ihm droht kein Sturm, denn Er ist heilig. Er kann im Sturme schlafen, denn Sein Werk ist noch nicht gethan, Seine Stunde ist noch nicht kommen. Ists der Satan, der das Ungewitter brachte, so hilfts ihm nichts, zu wüthen; die Zuversicht des heiligen Schläfers spottet sein. Es ist nichts zu fürchten. Einst werden Himmel und Erde mit großem Krachen vergehen und eine Feuerfluth wird die Welt verzehren − und der HErr wird thronen in großem Frieden, und die selige Ruhe des kommenden Menschensohnes, Seine tiefe Seelenstille wird unangefochten bleiben. Der in Feuerfluthen ruhig thronen wird, kann in Waßerfluthen schlafen, süße schlummern: es ist nichts zu fürchten − und dieß Antlitz fürchtet auch nichts − der stille Odem, der von Seinen schlafenden Lippen weht, ist stärker als der Sturm und sein Gebraus. − Er ruht, aber Seine Jünger? Der Aufruhr der Kreatur hat sie angesteckt und ergriffen, noch sind sie nicht Herren der Creatur, denn sie ruhen noch nicht, wenn alles tobt. Sie kennen den See, sie wißen seine sonstige Stille, sie wohnten ja an seinen Ufern oder doch ihnen nahe: es ist ihnen unheimlich im ungewohnten Brausen, es ist ihnen, als drohe der Tod. Sie sind Männer, auch wohl kühne Männer, aber es hat sie überwältigt. Was fangen sie an? Ihr Herz, ihr Auge sucht den HErrn und in Ihm die Ruhe − ihr Auge findet Ihn und ihr Herz, obwohl es von Ihm Ruhe erwartet, begreift Seine Ruhe nicht. Sie hätten denken sollen: „Schläft Er, so hats keine Gefahr!“ Aber sie sind des Gedankens jetzt nicht fähig. Sie müßen Ihm etwas Ruhe nehmen, indem sie Ihn aufwecken, um selbst ein wenig Ruhe zu bekommen. „Meister, Meister, wir verderben!“ (Luc. 8.) rufen sie. „Meister, fragst Du nichts darnach, daß wir verderben?“ (Marc. 4.) „HErr, hilf uns, wir verderben!“ (Matth. 8.) So rufen, so beten sie, und das Schifflein im Sturm wird zum Orte sehnlichen Gebetes und ängstlicher Anrufung. Hätten die Jünger des Windes und der Wellen nicht geachtet, sich neben den heiligen Schlafenden gesetzt, aus dem ruhigen Anblick des Schlafenden Zuversicht geschöpft, Ihn mehr gelobt als den Sturm gefürchtet, das Schifflein im Sturm durch stilles Lob geweiht: es wäre schöner und herrlicher gewesen. Aber es ist doch auch schön, daß nun alles, was unruhig ist, um Ihn, den Mittelpunkt aller Ruhe, den König des Friedens, im Gebet um Ruhe versammelt ist. − Das ängstliche Flehen der Jünger erweckt den HErrn aus Seinem Schlafe. Und Sein Erwachen ist, wie Sein Schlafen, furchtlos, ruhig. Weniger berührt Ihn das Brausen und Toben der Elemente, als die unruhige Angst Seiner Jünger; darum ist ein Wort der Misbilligung für sie das erste, was Er spricht. Hätte Er die Beruhigung Seiner Jünger nur durch Beschwichtigung der Natur für möglich gehalten; hätte Er nicht Ruhe mitten im Sturme bei den Seinigen voraussetzen zu können geglaubt; wäre es nicht Seine Forderung gewesen, daß

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 088. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/99&oldid=- (Version vom 28.8.2016)