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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

kein Ding, welches nicht ganz anders angeschaut würde, so wie einmal der Glaube an unsern HErrn unsere Herzen und Sinne erleuchtet hat. Es ist wahr, das Runde bleibt auch dann rund, die Zeit bleibt Zeit, und die Farbe bleibt in ihrer Würde, man mag nun gläubig oder ungläubig sein. Aber es wird doch selbst die natürliche Erkenntnis, obschon ihr Inhalt unverändert bleibt, durch den Glauben eine Quelle neuer, ungewohnter Gedanken und Urtheile. Die Erkenntnis göttlicher und geistlicher Dinge! Wie wird da alles Denken umgewandelt! Ueber Gut und Bös, Schön und Häßlich, Weisheit und Thorheit, Segen und Fluch, Freude und Leid lernt man so ganz verschieden denken und reden, sobald man nur den höchsten Gedanken, JEsum, und Sein heiliges Wort, den Ausfluß der allerhöchsten Weisheit, erfaßt hat! Man verlange es doch nicht anders. Wir haben das aus des Hauptmanns Beispiel entnommen. Da er sah, was damals wenige sahen und vielleicht niemand mit derselben Klarheit wie er, daß Christo alles unterthänig ist, da wurde es ihm ein Kleines und Leichtes, in den Krankheiten und Uebeln des Lebens auch nichts anders zu schauen, als lauter Knechte, die auf ihres HErrn Wort kommen und gehen. − Wir können das aus dem Beispiel des Hauptmanns noch mit einem andern, verwandten Zuge belegen. Der HErr bietet dem Hauptmann an mit Ihm hinab zu gehen und den Knecht zu heilen. Der Hauptmann aber will das nicht, verbittet sichs, will sein Haus von JEsu nicht betreten haben, ähnlich wie Petrus nach dem großen Fischfang JEsum bittet, ihn und sein Schiff zu verlaßen. Vor unsern Augen scheint es das Leichtere, den Kranken zu heilen, vor dem man steht, und die Noth lehrt uns deshalb flehentlich bitten, wie Jairus gebeten hat, daß der Arzt zum Kranken komme. Wir wollten dem Arzte auch gerne die Mühe des Kommens ersparen, aber der Jammer zwingt uns, jede Rücksicht auf den Arzt hintanzusetzen und dringlich zu werden um der Noth willen. Ganz anders bei dem Hauptmann. Er sieht nun einmal in JEsu keinen gewöhnlichen Arzt, sondern einen über alle Uebel des Lebens herrschenden König. Damit kommen ihm ganz andere Begriffe von Leicht und Schwer. Dem, der in der Ferne so gewaltig gebieten kann, wie in der Nähe, ist freilich Mühe erspart, wenn Er am Orte, wo Er sich befindet, heilen und helfen darf: bei Ihm heißt es: „Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund!“ und Ihm gegenüber wird schicklich, was vor und von andern zu verlangen unschicklich wäre.

 Noch ein drittes Beispiel, wie der Glaube die Gedanken ändert. Er zeigt uns, daß wir eine ganz andere Stellung zu JEsu einnehmen, als wir uns träumen laßen, so lange wir noch nicht mit dem Hauptmann vor Sein Angesicht getreten sind und Ihm in gläubiger Verehrung in’s Auge geschaut haben. Indem uns der Glaube Gott näher bringt, erkennt man Ihn und sich selbst im Vergleich gegen Ihn deutlicher und man lernt das rechte Maß von Nähe und Ferne kennen, welches dem betenden Sünder vor und zu Gott geziemt. Derjenige, welcher Gottes Wort nicht völlig recht vernommen, Gottes Werk und Wesen und sich selbst gegenüber Ihm nicht recht erkannt hat, redet nur vom nöthigen Nahen zu Gott und findet sich immer nicht nahe genug bei Ihm, und da wir von dem Bleigewichte unserer Sünde immer abwärts und von Gott weg gezogen werden, so scheint des Glaubens Werk in der That im Nahen zu Gott vollbracht zu werden. Und wer wollte es auch leugnen, daß der Glaube ein Nahen zu Gott ist, eine Aufhebung der Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf? Aber − der Glaube ist das Nahen eines Sehenden zu Gott, der Glaube sieht − und zwar im Verlaufe des Lebens und der Erleuchtung je länger, je mehr, − wie groß und heilig Gott ist gegen unsre Kleinheit und Sündennacht, und lehrt uns allgemach verstehen und sprechen, was im Prediger steht: „Gott ist im Himmel und du bist auf Erden, darum laß deiner Worte wenig sein.“ So kommen der Aussätzige und der Hauptmann betend zu Christo und wollen, daß auch Er sich ihnen wieder hilfreich nahe; aber beide verstehen auch, wer Er ist und wer sie; darum spricht der Aussätzige: „So Du willst, kannst Du mich reinigen“ − und noch demüthiger der Hauptmann: „Ich bin nicht werth, daß Du unter mein Dach gehest.“ − Glaube nahet, und weil er Gottes Herrlichkeit erkennt, fernt er auch wieder, und erst so entsteht die schöne liebliche Art des inwendigen liebenden, ehrenden, bräutlichen Wesens eines Gläubigen, die rechte Mitte zwischen Verzagtheit und blinder Verwegenheit, das Leben, deßen innerstes Bewußtsein Gnade ist, nur Gnade, aber volle, strömende Gnade.


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 084. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/95&oldid=- (Version vom 22.8.2016)