Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
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vollkommen, so wie nur erst der Sinn erweckt ist, die Vereinigung zu schauen. Die Kirche bleibt vor und nach dem Antichristus in der Erwartung ihres Bräutigams; vor und nachher mangelt es nicht an Leuten, die sicher dahin leben; wenn der HErr zur Tödtung des Antichristus und wenn Er zu Seiner letzten Offenbarung kommen wird, wird er bereitete und unbereitete Herzen finden. Wer alle Umstände der Weißagung und der Offenbarung erwägt, der wird am Dogma der lutherischen Kirche gar nichts zu ändern finden, nur wird er die Erwartung der Kirche vor und nach dem Antichristus zu unterscheiden haben und die tausend Jahre, Offenb. 20, nicht wie Luther und seine Nachfolger in diesem Stücke, in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft legen müßen. Geht es ihm dabei wie mir und anderen, daß er verlästert oder gar als ein Abfälliger excommunicirt wird; so mache er es wie ich, der ich die treue Meinung meiner Widersacher ehre, deshalb aber doch dem Lichte nicht untreu werde, welches Gott in eschatologischen Dingen uns, die wir näher am Ende leben, in größerem Maße geschenkt hat als vergangenen Jahrhunderten. Dabei fällt es Leuten, wie ich bin, am allerwenigsten ein, das Zeichen aller Schwärmer seit Montanus an die Stirne zu nehmen, alles und jedes in der Weißagung gewiß wißen und deuten zu wollen, Zeiten und Stunden zu bestimmen und immer aufs neue zu rufen: „Siehe nun leben wir in diesem, nun in jenem Stadium!“ Es kann wohl einmal kommen, daß auch die rechtgläubigen Lehrer in einem oder dem andern Punkte irren, die Schwärmer aber einem oder dem andern Worte Gottes näher stehen. Deshalb aber bleibt doch der Standpunkt getreuer Schriftmäßigkeit das Zeichen der Kirche und nicht der Schwärmer, und man tritt daher auch nicht auf die Seite der Schwärmer, obschon sie in einem oder dem andern Punkte Recht hätten. – Uebrigens möchte ich bei aller Ueberzeugung, die ich habe, doch alles denen nicht nachgeben, welche schnell sind mit Systemen, auf systematische Abrundung der eschatologischen Fragen dringen und, ehe sie wißen, was geschrieben steht, und verstanden haben, was der HErr spricht, schon für ihre menschlichen Lehrsysteme fürchten oder hoffen. Kommt Zeit, kommt Rath. Ob wir oder ob unsere Kinder zur völligeren Erkenntnis und Lehre kommen, das ist am Ende eins für die Wahrheit, die unaufhaltsam vorwärts geht, so wie auch für uns, die wir im Lichte der Ewigkeit dennoch erkennen werden, was uns hier fraglich und bedenklich war. –
Mehrfach hat man mich gefragt, was ich denn eigentlich mit dieser Postille für einen besondern Zweck gehabt habe; das Vorwort zur ersten und zweiten Auflage rede von einem solchen besondern Zwecke. Da ich den Zweck nicht erreicht habe, so kann ich ihn mit wenigen Worten kürzlich sagen. Ein ausgezeichneter Knecht Gottes hatte es in einer seiner Schriften beklagt, daß unsere Zeit kein ascetisches Buch von bleibendem Werthe hervorzubringen vermöge. Er selbst hatte es versucht, den Vorwurf des Jahrhunderts in einem seiner Bücher abzuwenden.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite IX. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)