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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

mit dem des vorigen Sonntags und dem Ende des dritten Capitels Marci eine dreifache Mauer zur Abwehr aller Ueberschätzung und Vergötterung der heiligsten Mutter. Bereits vor acht Tagen ließ Christus Sein Licht leuchten als ein erhabener Gottessohn, der schon in Seinen kindlichen Tagen Seine Mutter überstrahlte wie die Sonne den Mond. Heute sehen wir, mit wie großem Ernste Er jedes zu große Annahen und jeden Schein von Einmischung der frommen Mutter in Seine Heilandsgeschäfte abweist. Und stärker als mit den Worten Marci 3, 32 ff. konnte der HErr gar nicht die Seinen nach dem Fleische aus dem Umkreiße Seines Amtes verweisen, sie andern Menschen gleich und Sich über alle stellen. Man höre nur und bedenke Seine Worte, die Er mit einem Blick auf Seine Jünger sagte: „Siehe, das ist Meine Mutter und Meine Brüder. Denn wer Gottes Willen thut, der ist Mein Bruder und Meine Schwester und Meine Mutter.“ Jedoch wir wollen jetzt nur das heutige Evangelium berücksichtigen und hervorheben, was sich in ihm für Zeugnis von der Erhabenheit JEsu über Seine Mutter und damit über alle Menschen aufbewahrt findet.

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 Der HErr war zugleich mit Seiner Mutter, in Gesellschaft Seiner Jünger, auf einer Hochzeit zu Cana in Galiläa. Während der Hochzeitfeier begann der Wein zu mangeln und Maria wagte es bei ihrem Sohne deshalb Fürbitte zu thun. „Sie haben nicht Wein“, spricht sie zu Ihm. Sie wendet sich an ihren Sohn ganz offenbar in großem Glauben; denn sie traut Ihm Hilfe zu und zwar eine wunderbare, da ihr ja kund ist, daß Er menschliche Hilfsmittel nicht besaß. Noch hat Er keine Wunder gethan, und sie erwartet doch wunderbare Hilfe von Ihm; ein Beweis, daß sie Ihren Sohn erkannte und daß sie an Seine verborgene Herrlichkeit glaubte schon zu der Zeit, da kaum ein anderes Auge und Herz für dieselbe geöffnet war. Maria ist im Glauben andern Menschen zuvorgekommen, sie ist der Erstling in der Gemeine der Gläubigen, − und wie groß ist ihr Glaube! Hat wohl der HErr, da Er sagte, Er habe des Hauptmanns Glauben in Israel nicht funden, den Glauben dieses Mannes über den Seiner Mutter stellen wollen? Man darf es bezweifeln. Dennoch erfolgt auf die fürbittende Bemerkung Marien die gewaltige Antwort JEsu. Wäre sie nicht gewesen, die sie war, gewis hätte sie eine solche Antwort empfindlich gemacht. Aber keine Spur davon. Sie spricht zu den Dienern: „Was Er euch sagt, das thut!“ und was anders redet aus diesen Worten, wenn nicht ein ungeschwächter, ungeirrter Glaube? Sie bleibt mit ihrer Hoffnung an ihrem JEsus hangen, ahnt, daß Seine Stunde nun vorhanden sei, gibt den Dienern mit sicherer Zuversicht bereits Anweisung, Ihm ohne Zögern zu gehorchen, wenn Er sprechen wird, und erträgt die Rüge aus Seinem Munde ganz gerne. Nur verehrungswürdiger, nur desto edler und erhabener erscheint sie uns hiedurch! Aber weit über ihr steht ihr Sohn. Sie erscheint vor Ihm als eine Hilflose vor dem einzigen Helfer. Sie bittet, Er aber wird gebeten; sie zeigt allen Hilflosen den Weg zu Ihm und lehrt sie beten; Er hingegen geht, obwohl ein Hort aller Armen, dennoch auch vor Seiner Mutter abwehrend und unnahbar vorüber, sowie sich in ihren Worten eine Art von besonderer Berechtigung an Seine gnädige Hilfe ausspricht. Er sieht es gerne, wenn einer für den andern zu Ihm betet; Er ist willig zu erhören; aber Er gestattet keinem betenden und fürbittenden Menschen auch nur den Schein, der andere glauben machen könnte, als sei durch Sein Verdienst oder um Seinetwillen die Hilfe erfolgt. Daher die geflügelten, die strengen Worte selbst an die Mutter: „Weib, was habe Ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde ist noch nicht kommen.“ Er wies die Fürbitte ab, weil sie die Deutung zuließ, als hätte Er ihrer Erinnerung bedurft, als hätte Er vergeßen haben können zu thun, was Ihm geziemte; weil es scheinen konnte, als hätte Er auf der Mutter Mahnen und nicht aus freier Huld die Hilfe gewährt, als wäre sie mit im Werke, als wäre nicht Er allein, unabhängig von allem Rath und Mahnen der Seinen, ein Helfer aus Noth und Verlegenheit. „Weib“ redet Er Seine Mutter an, und man sehe doch ja in diesem Ausdruck, der im Griechischen ein Ehrenname ist und im Deutschen mit einem passenderen übersetzt worden wäre, wenn die Sprache einen solchen böte, nichts Unschönes oder Unedles, man fürchte sich, dem allerfrömmsten Sohne auch nur einen Hauch von Unrecht zuzutrauen. Kaiser redeten ihre Mütter mit diesem Worte wie mit einem Ehrentitel an, und, was mehr ist, als der HErr selbst am Kreuze hieng als Er der Mutter den Beweis der treuesten fürsorgenden Liebe geben wollte, redete Er sie mit demselben Worte an: „Weib, siehe das ist dein Sohn!“ Es ist wahr, so lieb und freundlich als der Muttername ist der Name

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 074. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/85&oldid=- (Version vom 22.8.2016)