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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

das von ihm gepriesene Geheimnis von Anfang her, welches im neuen Testamente offenbar geworden ist: die Theilnahme der Heiden an Christo durch den Glauben, durch den Glauben allein ohne des Gesetzes Werke, hier ist es zum ersten Male erschienen. Aus mancherlei Zungen und Sprachen Eine Heerde − und für dieselbe Ein Hirte: hier sehen wir es vorgebildet, wo neben der jüdischen Gottesmutter, neben dem jüdischen Pfleger Joseph die frommen Heiden knieen und den neugeborenen König anbeten. Das ist gewis der Feier werth. Das soll Israel feiern und die Heiden sollen darob jubilieren, und wir sind ja auch Heiden von Stamm und drum sollen auch wir jubilieren.

 Jedoch sehen wir in diesem Evangelio nicht bloß der Heiden Beruf und ihren Theil an Christo, sondern wir sehen in der Geschichte, welche erzählt wird, auch noch in einem anderen Betracht den Anfang späterer Zeiten. Wir sehen ja nicht bloß die Heiden in gleicher Gnade der Berufung wie die Juden, sondern wir sehen sie vor den Juden zu Christo kommen, die Juden sich verspäten, Jerusalem regungslos, während das ferne Morgenland anbetende Boten sendet. So ist also schon zur Zeit der Geburt Christi Blindheit Israels Theil geworden, und schon damals gewannen die Heiden einen Vorsprung vor den Juden! Es beginnt also bereits mit Christi Geburt der Heiden selige Zeit, die erfüllt sein muß, ehe sich Jerusalem aus dem Staube hebt und Israels Uebriges zu seinem Heiland kommt. Es beginnt unsre Zeit und Stunde, denn wir sind Heiden. Es beginnt die Stunde, die noch währt; denn noch immer wandelt die Stimme des HErrn um die Erde und beruft alle Völker, und immer mehr sammelt es sich von allen Enden zu dem Neugeborenen. Es kommt die Königin von Mittag, die Niniviten kommen, der Kämmerer von Mohrenland, aus allen vier Winden kommen Gottes Pilgrime heidnischer Abkunft und sammeln sich in den Vorhallen des ewigen Hochzeitsaales, um in das hochzeitliche Gewand der Gnade gekleidet zu werden. Alles, was getrennt war, wird vereinigt durch Ihn, durch Seinen Glauben, Seine Taufe und Sein heiliges Mahl: es sammelt und einigt sich, was Eins sein kann und soll, bis endlich der Tag kommt, wo die letzten kommen, welche die ersten waren, die Kinder Israel. Und den Beginn dieser Zeit, diesen schönen, seligen und heiligen Beginn sollte man nicht feiern? − Wenn man ihn nicht feiern könnte, wie stünde es mit uns armen Heiden? Wenn die Heiden die letzten wären, wenn uns Blindheit ergriffen hätte, wie wir sie an Israel gewahr werden! Oder wenn wir gar nicht eingeleibt würden in Gottes Kirche! Wenn es keine allgemeine Kirche Christi gäbe, wenn wie am alten, so am neuen Testamente nur die Juden Theil hätten! Da müßte Japhet trauern und Ham verzweifeln und Sems Hütten wären leer, und der Heiden Zeit wäre ein Vorhof der Hölle. Wie ganz anders aber ist es nun, da Japhet in Sems Hütten wohnt und Ham, der verlorene Sohn, sich wieder findet − und alle zusammen ein Fest der Erscheinung göttlicher Gnade für alle Menschen feiern! Darum laßt uns freuen und fröhlich sein an diesem Festtage JEsu und Seiner Braut, an diesem schönen Feste der keimenden, sproßenden, wachsenden, blühenden, reifenden Kirche!

 Brüder, uns leuchtet kein Stern zu Dem, des wir bedürfen! Uns hat Sein eigenes, helles Sonnenlicht umfangen, schon da wir aus Mutterleibe gezogen wurden. Sein freundliches Wort, Sein gnadenreiches Sakrament, durch beide Seine unaussprechliche Liebe hat uns umfaßt, dieweil wir leben. Wir mußten nicht zu Ihm und Seiner Krippe wandeln; Er kam zu uns, da wir noch in der Wiege lagen; Er hat uns wiedergeboren, da wir kaum geboren waren; ja wir sind Ihm in zahllosen Gebeten und in erbarmungsvoller Erhörung geweiht und zu eigen übergeben, noch ehe wir geboren waren, und man hat uns Ihm verlobt, noch ehe wir ja und Amen dazu sprechen konnten. Also nicht suchen gehen wir zu Ihm, aber danken und anbeten gehen wir, jedoch nicht nach Bethlehem, sondern nach Zion, nicht nach Herodis Zion, sondern nach dem ewigen Zion JEsu. Daß wir nur nicht beim hellen Schein der Gnaden die Wege verlieren, die dorthin führen, und des Glaubens nicht überdrüßig werden, der zum Schauen fördert, nicht überdrüßig, emporzusteigen zu dem heiligen Gipfel des Berges Zion, zu welchem die Weisen und ein großes Heer seliger Heiden gekommen sind! Daß wir nur nicht im tiefen Thale und in Sünden bleiben, nicht von der Anbetung aller seligen Kreaturen ausgeschloßen werden, welche dort geschieht! (Offb. 4. 5.) Daß nur nicht dermaleins um Gottes Tische sitzen Leute aus allen Völkern und Zungen, während etwa wir in dunkler, freudenloser Ferne dem allen mit verschmachtendem Auge zusehen! − Ach HErr, sehnsüchtiger als unser Sehnen war das Sehnen der

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 065. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/76&oldid=- (Version vom 22.8.2016)