Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/73

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

an ihr Ohr gelangt, so leicht sie ihr folgen können, so ganz und gar in der Annahme ihr Glück gelegen ist. Da hieß es in der That: „ER kam in Sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“


 Es ist etwas ganz Eigenes, meine Freunde, wenn man sich so recht lebendig in die Geschichte versetzt und nun die Weisen vor den Thoren der heiligen Stadt, auf dem Wege nach Bethlehem so allein, ohne alle jüdische Begleitung sieht. Das Benehmen des Volks Israel war doch gewis auffallend und ganz der Erwartung zuwider, welche die Weisen aus ihrem Vaterlande mitgebracht hatten. Während sie das Land des Neugeborenen in Freuden und Frohlocken zu finden erwarten konnten, finden sie alles todt. Sie kommen voll Begier anzubeten aus weiter Ferne, und da mag niemand nur ein paar Stunden nach Bethlehem gehen und sehen, ob etwa wirklich dort der Segen der Welt geboren ist. Was Wunder, wenn die Weisen selbst irre und bedenklich geworden wären, nach Bethlehem zu gehen? Aber nichts von dem! Das Benehmen der Juden ficht die Weisen, scheint es, gar nicht an. Sie können es ganz gut vertragen, nach eingeholter Weisung allein nach Bethlehem zu gehen. Sie haben Seinen Stern gesehen und die Juden haben nichts gesehen: sie sind voll Ruh, voll Zuversicht, voll Sehnsucht, voll Erwartung. Das ist, meine Brüder, das erste Beispiel jenes Glaubens der Heiden, welchen Christus am Hauptmann von Capernaum und am cananäischen Weiblein so hoch rühmte und ihm die ewige Gesellschaft Abrahams, Isaaks und Jacobs zusprach, das ist der Glaube, der Israel beschämt, der JEsum und Seine Engel in Verwunderung setzt. Da ists geschehen, was niemand hoffte: wir sehen auf dem Wege gen Bethlehem die heidnischen Weisen allein im Lichte Zions wandeln, und Nacht und Dunkel deckt Zion selber. Da ist wahr geworden an den Bewohnern von Jerusalem und an den Weisen, was St. Paul spricht: „Das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das nicht eine Beschneidung, die auswendig im Fleische geschieht, sondern das ist ein Jude, der inwendig verborgen ist, und die Beschneidung des Herzens ist eine Beschneidung, die im Geiste und nicht im Buchstaben geschieht, welches Lob ist nicht aus dem Menschen, sondern aus Gott!“ (Röm. 2, 28. 29.)


 Die Weisen sind auf dem Wege nach Bethlehem und wer weiß, ob es ihnen nicht doch ein wenig fremd und unheimlich gewesen ist im Lande des großen Königs! Dazu wißen sie nun zwar die Stadt, wo Er zu suchen, aber wo in der Stadt wird Er nun zu finden sein? So viel konnte ihnen aus den bisherigen Erfahrungen schon klar geworden sein, daß der neugeborene König nicht in den Palästen zu suchen war. Wie wenn Er nun in Bethlehem so wenig bekannt gewesen wäre, wie in Jerusalem? Wie wenn selbst die Kundigsten, die Hirten von Bethlehem von einem neugeborenen König der Juden keine Auskunft hätten geben können; wenn sie das Kind, das Engel vor ihren Ohren besangen, unter dem Titel eines Judenkönigs nicht wieder erkannt hätten!? Wie wenn − denn möglich können wir uns das doch denken − in Bethlehem auf die Frage der Weisen keine Antwort gewesen wäre?! Wenigstens die Weisen konnten in ziemlicher Verlegenheit sein, wenn schon wir Rath und Antwort uns denken können. Doch harre! Der Gott, der sie, wie einst Abraham, in ein Land geleitet hat, das sie nicht wußten, der sie aus dem fernen Heidenlande sicher bis zur Stadt des Ersehnten geführt hat, wird sie nun nicht unberathen laßen. Der den Hirten das Wahrzeichen der Windeln und der Krippe gegeben, wird auch den Weisen ein Zeichen geben, das sie ihres Heilands gewis machen kann! Er wirds thun, ja er thuts! Denn siehe, da ist der Stern, der wohlbekannte, den sie im Morgenlande gesehen hatten, − und siehe, „er gieng vor ihnen hin, bis daß er kam und stand oben über, da das Kindlein war.“ So sagt die Schrift. − Es war ein wunderbarer Stern. Die Weisen reisen wohl bei Tag die wenigen Stunden bis Bethlehem − der Stern leuchtet also bei Tag, da andere Sterne nur bei Nacht sichtbar werden, er ist ein sonnenheller Tagesstern. Im Morgenlande hatten sie ihn gesehen, dann war er ihnen verschwunden, hier kam er wieder: er kam und gieng, je nach der Weisen Bedürfnis. Er geht vor ihnen her den Weg entlang von Jerusalem nach Bethlehem − also nicht kreißförmig, grade, nicht mit wirbelnder Schnelligkeit, sondern als ein Führer und Begleiter langsamer Menschenkinder. Er geht und bleibt endlich über dem Hause kenntlich stehen, in welchem Der war, welchem zu Ehren er im Morgenlande und hier leuchtete. Er bleibt nicht stehen, wie manchmal ein heller Stern gerade über

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 062. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/73&oldid=- (Version vom 22.8.2016)