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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Völker fanden schon in den Uebeln, welche dazumal die Welt belasteten, Grundes genug, sich am Verlangen Israels zu betheiligen. Die allgemeine Erwartung hatte sich von dem heiligen Lande aus nicht blos auf die beweglicheren und bewegteren Abendlande verbreitet, sondern auch die stilleren Länder gegen Morgen waren von ihr ergriffen. Insonderheit konnten diejenigen Gegenden des Morgenlandes von jener wunderbaren Sehnsucht des menschlichen Geschlechtes leicht erfaßt werden, in denen sich einst die Juden während ihrer Verbannung aufgehalten hatten, und in welchen so viele Juden auch dann noch zurückgeblieben waren, als König Kores ihrem Volke die Erlaubnis zur Heimkehr gegeben hatte. Das waren aber gerade die Gegenden, in welchen es solche Weise gab, wie sie in unserm Texte erwähnt werden, − es waren die Gegenden von Persien und den umliegenden Landen, die Heimath der Magier. Dort war einst Daniel über alle Magier erhöht und gesetzt gewesen, und von ihm her, dem großen Propheten Christi und Seiner Tage, konnte sich ganz wohl die Hoffnung auf einen kommenden Helfer aus Juda unter den Magiern und im ganzen Lande erhalten haben. Diese alte Hoffnung aber machte den Boden empfänglich für die Saat der Gnaden, die da kommen sollte, und in den Tagen Christi auch wirklich kam. Der HErr, welcher unter Nebucadnezar und Kores jenes ferne Morgenland mit dem Lichte Seines alten Testamentes so merkwürdig heimgesucht hatte, gedachte an Seine alte Barmherzigkeit und verkündigte den dortigen forschenden Weisen die nahende Geburt Seines Sohnes, durch einen wunderbaren Stern. Da sie den Himmel und seine Sterne betrachteten, wie sie gerne thaten, fanden sie einen Stern, den sie nicht gesucht hatten, Seinen Stern, den Stern des Erlösers. Es ist eine wunderbare Rede, welche die Weisen führten, als sie nach dem heutigen Evangelium nach Jerusalem kamen, „Wir haben Seinen Stern gesehen im Morgenlande,“ sagen sie, ohne näher zu erklären, warum sie den Stern Seinen Stern nennen. Der Ausdruck ist für uns dunkel und geheimnisvoll, aber nichts desto weniger spricht aus ihm die gewisseste Zuversicht, welche sich nur denken läßt, − eine Zuversicht, welche untrügliche Zeichen, ja Offenbarungen voraussetzt, daß der Stern auf Christum deute. − Glückselige Magier, gesegnete Weise aus Morgenland! Sie haben Seinen Stern nicht allein gesehen, sondern auch unter göttlicher Anweisung erkannt. Und sie haben ihn nicht blos erkannt, sondern auch verstanden, warum grade sie zu so wunderbarer Erkenntnis gelangen; sie fühlen sich zu Dem gerufen, von welchem das Licht des Sternes mit beredtem Schweigen predigt; sie müßen Ihm entgegengehen. Die Magier, meine Freunde! waren durch den Stern zu Christo berufen.

 Es sind also gleich von Anfang an, seit den Tagen der Geburt Christi, Juden und Heiden, Heiden sowol wie Juden berufen, denn die Magier sind ja Heiden. Die Juden haben predigende und lobsingende Engel, sie haben die Hirten, sie haben Joseph und Maria, sie haben Simeon und Hanna, sie haben die Sonne selber in ihrer Mitte, den neugeborenen Christus. Die Heiden haben geheimnisvolle Offenbarung und einen wunderbaren Morgenstern. Einerlei berufende Gnade erstreckt sich auf Juden und Heiden. Aber der Ruf ergeht offenbar an die Juden stärker als an die Heiden. Die Engel, die Hirten, Joseph und Maria, Simeon und Hanna reden deutlicher und stärker, als ein stiller Stern, man kann sagen, den Juden leuchtete Christus wie Sonnenlicht, den Heiden wie Sternenlicht. Weit bevorzugter waren also die Juden in jenen Tagen, als die Heiden, wie auch vorher, in der Zeit der Vorbereitung, jene eine ungleich größere und mächtigere Gnadenströmung erfuhren, als diese. Wir wollen sehen, wo der Ruf eine größere Bereitwilligkeit, einen treueren Gehorsam fand, bei den Juden oder bei den Heiden.


 Die Weisen hätten den Stern sehen, erkennen, bewundern, sich freuen und daheim bleiben können. Sie hätten dem ihnen angekündigten großen König der Juden im Herzen die Ehre geben, sich gelegentlich nach Ihm erkundigen und damit zufrieden sein können. Eine Reise zu dem König, ein persönliches Nahen zu Ihm hätten sie sich erlaßen können; sie waren ja so ferne und das Reisen hat im Morgenlande so gar große Unannehmlichkeit und Beschwerde. Aber nein! Sie haben den Stern gesehen, nun sind sie nach dem Anschauen der Sonne begierig. Die Person, auf welche der Stern deutet, ist groß, hehr, hochwichtig für die ganze Welt und für jede einzelne Menschenseele insonderheit: ihr Gerücht ist Jahrhunderte vor ihr hergegangen −

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 060. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/71&oldid=- (Version vom 22.8.2016)