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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Joseph: wendet auf sie meine Bemerkung. Wie wenn diese Mutter, dieser fromme Pfleger in des Kindes Namen tief empfunden, als eine schwere Last getragen hätten, was dem heiligen Knaben geschah! Ich weiß, daß Maria auf Leiden vorbereitet war − die Worte des heiligen Simeon tönen uns wohl allen noch in den Ohren! Aber ein getroster, für das Kreuz bereiteter Sinn ist zwar stark, aber nicht fühllos, sondern er geht im Gegentheil mit entschloßener Hingebung in die Erfahrung der vorauserkannten Leiden ein und fühlt sie desto durchdringender und stärker. − Und wie kann es anders sein, als daß Marien schmerzliche Vergleichungen zwischen Sonst und Jetzt, der Nacht der Ankunft und dieser Nacht der Flucht sich aufgedrungen haben? Ach, man hat kein Auge und nicht Herz genug, die Lage der heiligsten Familie zu erkennen und sich hineinzuversetzen; sonst würde man mit heiligem Mitleid vor allem sie begleiten, ehe man bei Bethlehems und Herodis Unglück stehen bliebe. − Man könnte sich erinnern, daß JEsus, der Heilige und Unschuldige, der Anlaß zum Unglückstage Bethlehems werden mußte, − und da es gar kein beneidenswerthes Loos ist, die unschuldige Ursache fremder Leiden zu werden; so könnte man in diesem Umstande eine Mehrung des Unglücks finden, welches JEsum und die heilige Familie traf. Wir wißen nicht, ob den Bethlehemiten zur Zeit des Mordes die eigentliche Ursache kund wurde, um deren willen er geschah; aber wenn er ihnen kund wurde, wenn dann manche jammernde und weinende Mutter mit bitterem Gram an JEsum dachte, wenn Thräne und Leid sich gegen Ihn kehrte, der doch auch ein Heiland aller Bethlehemiten war! Es ist schmerzlich, den Gedanken zu bewegen, und es ist gut, daß wir nicht wißen, ob er nicht doch überflüßig ist. Wir wollen ihn auch aus dem Herzen thun, diesen Gedanken! Fast ist er unziemlich und es paßt nicht, ihn auf den anzuwenden, der die Güte selber ist, der kein bitterer Brunnen ist und von dem kein Tropfen alles des Uebels stammt, das in Zeit und Ewigkeit die Creaturen niederdrückt. − Ueberhaupt ist es mit dem Mitleid, das man JEsu, seis in Anbetracht der Leiden Seiner Flucht, seis wegen Seiner übrigen schweren Lasten widmet, ein ganz eigen Ding. Wen soll man mehr bemitleiden, als Ihn? Es hat ja keiner gelitten wie Er, keiner so viel, und keiner so tief, so durchaus, daß Geist und Seel und Leib ergriffen waren. Und doch, es ist, als müßte man dem Bedauern wehren! Wenn Er gleich ruft: „Ist auch ein Schmerz, wie Mein Schmerz?“ wenn diese Stimme gleich ins tiefste Herz eindringt; so wird einem doch mehr zu Muth, als müßte man niederknieen und heilig, heilig, heilig singen, denn als müßte man weinen. Dieser Leidende ist mitten im Leiden so groß − und der Glanz der ewigen Majestät, welche Er erstritten hat, leuchtet Ihm bei all Seinem Weh so hell vom Angesicht, daß man selbst bei Seinem Erblaßen am Kreuze zur Anbetung gestimmt wird und geneigt, alles Mitleid denen zuzuwenden, die Ihn nicht kannten, die, während sie Ihn plagten, im Wahne lebten, Er sei von Gott geschlagen und gemartert. Er ist für Mitleid zu groß − und ist nun jedenfalls aus Angst und Gericht genommen.


 Jedoch kehren wir ein und zurück zu dem, wovon wir uns eigentlich vorgenommen haben zu reden. Wir haben gesehen, daß unter der Sonne überall und bei allerlei Menschen Leiden sind. Die Bethlehemiten, Herodes, JEsus und die Seinen, Junge und Alte, Arme und Reiche, Unschuldige und Schuldige, Heilige und Gottlose leiden. Aber die Allgemeinheit des Jammers, dem niemand entfliehen kann, darf uns doch nicht blind machen für die großen Unterschiede im Leiden. Ueberall geht Leid und Freude zusammen, sie sind wie Zwillingsgeschwister, die von einander nicht laßen, miteinander oder dicht hintereinander überall erscheinen. So scheints, aber es ist nicht so; denn bei den Gottlosen ist das Glück, welches sie haben, nur ein geringer Begleiter des stolzen, mächtigen Unglücks: das Glück stirbt und dann kommt das Unglück zu ewiger Kraft. Bei den Frommen ists umgekehrt, das Unglück stirbt alle Tage mehr dahin und das Glück bleibt und wird endlich im Sterben verklärt zu ewiger Seligkeit. Ueberdies ist es gewis und wahr, daß schon im Leben, wo Glück und Unglück zusammen herrschen, über die Frommen ein heimliches Vergnügen und ein stilles süßes Warten, ja ein verborgenes Gefühl und Bewußtsein unaussprechlichen Friedens und Wohlseins von Tag zu Tag mehr sich ergießt. Mitten im Unglück haben sie ein Glück, um des willen sie im Grunde niemals zu bedauern sind. Laßt uns das an unserm Texte sehen!

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 056. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/67&oldid=- (Version vom 22.8.2016)