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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der unschuldigen Kinder fand und findet Erbarmen und Herodis Unglück findet keines. Aber das ist ja vollends der Gipfel des Unglücks, das kann doch unmöglich den Satz umstoßen, daß niemand unglücklicher ist, als der Gottlose, welcher Gott zum Feinde hat.


 Ich habe eure Augen auf das Unglück Herodis gerichtet und behauptet, es sei schrecklicher als das Unglück der Bethlehemiten, und übertreffe dieß weit, wenn gleich es in unserm Evangelio kein hervorstechender Zug ist. Ich habe dieß gethan, weil man Herodis Unglück so gerne vergißt. Indes weiß ich doch in unserm Evangelium noch jemand, dem es auch nicht wohl ergieng, und deßen Leiden, obschon sie zugleich die allerunverschuldetsten unter allen sind, man bei Betrachtung unsers Evangeliums fast noch mehr zu übersehen pflegt, als die Herodis. Seht auf Jesum! Oder will man kein Auge des Mitleidens auf Ihn wenden und auf Seine Mutter und auf Seinen Pflegevater? Sind sie etwa allein ohne Jammer ausgegangen und haben sie gar keinen Antheil an dem Thränenbrote gehabt, von welchem alle Einwohner von Bethlehem damals zu eßen bekamen? Als das heilige Kind geboren wurde, gab es in Bethlehem für dasselbe keinen Raum! im Stall, in einer Krippe, auf Heu, in armen Windeln mußte es liegen − und die heilige Mutter, der fromme Joseph hatten schon damals für ihren Freudenkelch einen bittern Wermuthstropfen daran, daß sie den hochgelobten Liebling aller Himmel nicht beßer empfangen und bewirten konnten. Und kaum sind einige Wochen herum, Wochen, in denen ihnen allerdings auch hohe Freudenstunden gegeben wurden, z. B. die Ankunft der Weisen, da erhebt sich gegen den unmündigen Gottessohn ein Sturm, welcher Ihn unbarmherzig aus Seinem eigenen Lande und deßen Grenzen weht. Wenn Abraham, der Fremdling im heiligen Lande, wenn andere Helden und Patriarchen es verlaßen und nach Aegypten ziehen; was ists, zumal Reichtum und Fülle und Macht sie geleitete und offene Pforten sie empfiengen? Aber JEsus − der zarte Säugling, in kalter Nacht, unter banger Furcht der Seinen, gesucht von Mördern, ein Flüchtling aus dem Lande, deßen rechtmäßiger Herr Er sogar nach dem Fleische genannt werden konnte, ein Flüchtling in ein Land, woselbst es Israel so manchmal übel ergangen war, in eine Fremde, wo Ihn niemand kennt und schätzt! Das ist doch eine andere Sache! Wenn dort Rahel in den bethlehemitischen Müttern bitterlich über die ermordeten Kindlein weinte: wird ihr Weinen nicht auch Dem gegolten haben, des jugendliches Loos so genau mit dem Loose übereinkommt, welches die Israeliten bei der Wegführung in die Gefangenschaft traf, und von welchem zunächst in jener prophetischen Stelle die Rede ist?! Und wenn man einmal von den Thränen Rahels und der bethlehemitischen Mütter sagt; − meinst du, Maria werde keine Thräne im Auge gefunden haben für ihr Kindlein, welches, ein Nazarenus von der Krippe bis zum Kreuze, so gar bald seine dornenvolle Pilgerstraße betreten muß?! − Es ist nicht zu leugnen, daß JEsu Unglück unter dreien das kleinste ist; aber ein Unglück, ein nicht geringes, sondern ein großes, schmerzliches Unglück ist es ja doch, fliehen, aus dem Vaterlande, ja aus dem Eigentumslande fliehen zu müßen, auf das man so hohe und unabweisbare Ansprüche hat. − Hat doch unser HErr selbst im Hinblick auf die Zeit der Flucht im jüdischen Kriege gesagt: „Wehe den Schwangern und Säugern zu jener Zeit“?! Es ist ein Unglück, was JEsum und Seine Mutter trifft, das ist nicht bloß behauptet, das ist mit diesem Ausspruch JEsu auch bewiesen. Dazu war Sein Unglück unter den dreien das unverdienteste und recht verstanden das allein unverdiente. Wer einem Mörder Unrecht thut, der thut Unrecht; wer aber einem Gottesreinen Unrecht thut, wie Unrecht thut der! Ist nicht ein Unrecht, das dem Gotteslamm gethan wird, das ungerechteste, das es gibt? Ein klein Unrecht, dem Heiligen und Reinen angethan, ist größer als ein groß Unrecht, dem Bösen angethan, darum daß dem Bösen allerlei Unrecht und Leid, dem Heiligen und Reinen gar kein Leid gebührt. Und wie wenn der Heilige und Reine es auch bei aller Gottverlaßenheit und Stille mehr fühlte, wenn es auf sein Gemüth mit einem Drucke sich legte, den ein schuldig Herz kaum ahnen kann! Ihr lächelt und schüttelt den Kopf, weil ihr das Knäblein für allzujung haltet, als daß man glauben könnte, es habe Seine damaligen Leiden gefühlt? Vielleicht lächelt ihr ohne Ursach, vielleicht irret ihr, vielleicht fühlte er sie, wenn er auch von seinem Fühlen noch kein menschliches Bewußtsein hatte. Aber sei’s drum, mag das unentschieden bleiben! Werfet aber dafür ein Auge des Mitleids auf Maria und

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 055. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/66&oldid=- (Version vom 22.8.2016)