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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

auf Sich nehmen, sonst wäre Er nicht Mensch geworden, nicht Sohn einer Mutter aus Israel, als welcher Er beschnitten werden mußte. Er soll es auch, sonst würden Engelhände die Beschneidung von Seinem heiligen Leibe abgehalten haben. Er hat jene Verpflichtung, jene unbezahlte Schuld aller israelitischen Knaben auf Sich genommen, denn Er ist beschnitten. Seht nun, meine Brüder, wieder auf den Knaben in der Krippe! Wie gefällt Er euch? Das ist der Mensch, der einzige, alleinige, der das Gesetz erfüllen wird. Hosianna dem Knäblein, dem heiligen, dem starken Heldenkinde, dem Gotteskinde! Der thut, was keiner sonst kann. Der es für alle thut, der für alle zahlt, ist da. Da liegt Er neugeboren. Er wirds thun und Sein Gehorsam bis zum Tode, bis zum Tode am Kreuze wird alle Forderungen, welche das Gesetz je an einen Menschen thun konnte, vollkommen zufrieden stellen.

 Er wirds thun, sage ich. Warum sage ich nicht lieber: Er fängt in der Beschneidung bereits an, es zu thun? Ist nicht die Beschneidung, die zur Beobachtung des ganzen Gesetzes verpflichtet, selbst ein Gesetz? Ist nicht, wer sie thut oder leidet, dem Gesetze gehorsam? Und finden wir also nicht unsern HErrn bereits durch die Beschneidung auf jener steilen Bahn des Gehorsams, von welcher geschrieben steht: „Er ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“? Der Tod am Kreuz, der blutige, schmerzenreiche, ist das große Ende des Gehorsams, den der heilige Knabe mit den Blutstropfen und Schmerzen der Beschneidung beginnt. Warum leidet das heilige, untadelige Knäblein? Ihm gebührt doch kein Leiden, kein Blutvergießen, auch nicht das geringste! Leidet Er, so ist entweder der Schutz des gerechten Vaters von Ihm gewichen, was doch nicht sein kann; oder das Leiden ist mit eingefaßt in den ganzen, heiligen Plan Seines Lebenslaufes. Und das ist es! Er ist unser Bürge, nicht allein in Erfüllung des Gesetzes, sondern auch im Leiden, ja für alle Leiden, welche die gesammte Menschheit mit ihrer Uebertretung verdient hat, ohne sie in Ewigkeit ausdulden und überwinden zu können. Alles, was der HErr je und je erlitten hat, hat er an unsrer Statt erlitten. So hat er auch dieß erste Leiden der Beschneidung an unser Statt erlitten. Indem Ihm selbst damit das Zeichen und Sigel aufgedrückt wird, daß Er Abrahams Same ist und daß Er Theil hat am alten Bunde, vergießt er zugleich etwas von jenem Blute, welches zur Versöhnung und zum Heile aller Menschen vergoßen werden soll. Er vergießt zur Erfüllung des alttestamentlichen Gesetzes etwas von Seinem Blute; aber eben damit beginnt Er, das alte Testament in’s neue zu verklären, denn dieß Blut ist das Blut des neuen Testaments − und ER selbst ist der Stifter desselben neuen Bundes, gekommen, daß Er Sein Blut und Leben gäbe zum Lösegeld für viele. Dieß kleine Leiden ist Pfand und Verheißung größerer Leiden, und in demselben ergibt Er Sich der Menschheit und wird ihr Blutbräutigam in einem Sinne, von welchem Zipora nichts ahnte, da sie ihren Sohn beschnitt und Mosen einen Blutbräutigam nannte. Diese Gedanken im Gedächtnis haltend seht abermals in die Krippe, meine Freunde, und sagt mir, ob es nicht wahr ist, was ich oben sagte, ob nicht aus der Beschneidung die Geburt des HErrn ein Licht empfängt, durch welches wir sie nur desto lieblicher und ehrwürdiger finden und angeleitet werden, den Friedensgruß der Engel, welchen sie bei der Geburt des HErrn der Menschheit sangen, tiefer aufzufaßen. In der That, alle Hoffnungen, welche wir an Weihnachten von unserm hochgelobten Neugeborenen faßten, werden uns heute bestimmter, kenntlicher, wahrer, völliger. Heut geben wir, wohlerkennend, was wir reden, die rechte Antwort auf die Frage: „Wer ist das, der in der Krippe, der in Mariens Schooße liegt?“ Wir antworten nun: „Er ist Gottes Lämmlein, dem der Leib bereitet ist − zu thun den Willen Gottes, der Welt Sünden auf sich zu nehmen. Es ist der Stern aus Jacob, der Seinen Lauf beginnt, der ihn fortsetzen wird, bis Er an der Höhe unsers Himmels Seine unwandelbare Stelle findet, wo Er ewiglich zu aller Heiden Trost und Freude leuchtet. Sein Glanz ist erbarmende, sich aufopfernde, versöhnende Liebe!“ − Gesegnet sei der Tag der heiligsten Geburt! Gesegnet sei der Tag der heilsamsten Beschneidung! Gesegnet sei das Kindlein, das geboren und beschnitten ist, der holde Liebling Gottes und der Menschheit, der Anfang und die Vollendung alles unsers Heiles!


 An demselben Tage, an welchem der HErr beschnitten wurde, erhielt Er auch nach bestehender Sitte in Israel den Namen, der von dem Engel genannt war, ehe Ihn seine Mutter empfieng. Er wurde JEsus

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 048. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/59&oldid=- (Version vom 22.8.2016)