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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am vierundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Colosser 1, 9–14.

 DAs Erbtheil der Heiligen“ − wer beschreibt es? Wer es erlangt hat, wie Lazarus, der kehrt nicht zurück zu den armen Erdenpilgern, so wenig er zum Reichen in der Qual geht, ihm die Zunge zu erquicken. Der Eine, der todt war und ist wieder lebendig geworden, unser HErr JEsus Christus, der es hätte sagen können, hat es nicht gesagt, wie schön, wie herrlich das Erbtheil der Heiligen im Lichte ist! − So sagst, so klagst du! Aber es ist nicht so! Du irrst! Ich habe die Lehre vom Zustand der Seelen nach dem Tode studiert, und wie bin ich erstaunt, wie viel von Bild und Gleichnis entfernte helle, klare Stellen die heilige Schrift enthält! Wenn irgendwo, so heißt es da: „Wer da sucht, der findet!“ Viele unvermuthete, überraschende, beseligende Blicke ins Jenseits, ins Erbtheil der Heiligen im Lichte habe ich gethan. Und ich wollte, du thätest sie auch, dann würde, was widersprechend lautet: „Geduld und Langmüthigkeit mit Freuden“ dir auch verständlicher werden.

 Dulden und unter langem Druck den Muth erstrecken und lang werden laßen, − und dabei, ja gar darin Freude haben! Das ist nicht von Fleisch und Blut zu erwarten. Wer das vermag, dem ists möglich alleine durch des Vaters Geist, der in uns wirkt! Ja, es ist ein Wunder, daß die Freude mit Geduld und Langmuth, d. i. − mit langem Leid und Schmerz zusammengeht! Und dies Wunder wirkt der Geist des HErrn durch jenen Blick ins Erbtheil der Heiligen. Wer da weiß, was seiner wartet, − wer es nur so weiß, wie mans denn aus Gottes Wort wißen kann, wer es geglaubt hat, dem ist bei solcher Aussicht kein Leid zu schwer und zu lang; bei der Sicherheit deßen, das da kommt, wird ihm die Freude durch den lastenden Druck nicht genommen, sondern gemehrt; − da sein Fuß noch in den Dornen der Welt verweilen muß, eilt er desto eifriger mit dem Geiste voran − dahin, wo kein Leid, kein Geschrei, keine Thräne mehr ist! Was für ein wunderbares Vorausleben ist das, was für ein Vorschmack der ewigen Freuden!

 HErr, barmherziger, ewiger Gott! Jenseits verleih mir das Erbtheil der Heiligen im Lichte! Diesseits gib mir „Geduld und Langmüthigkeit mit Freuden!“


Am fünfundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
1. Thess. 4, 13–18.

 BArmherzigkeit, Gnade ist alles im Reiche Gottes, alles ist Gnade und Barmherzigkeit! Und doch ist auch alles so gerecht, so richtig, so genau! Nicht überall, nicht immer, o HErr, sehe ich Deine Gerechtigkeit. Es hat Dir beliebt, die Waage Deiner Hand in Wolken zu verbergen und nur zuweilen ein menschlich Auge hindurchblicken zu laßen! Aber zuweilen, hie und da einmal sehen wir Barmherzigkeit und Gnade vereinigt mit Gerechtigkeit! Gerechtigkeit in Barmherzigkeit und Gnade! − So ists bei dieser Epistel!

 Oder soll ich statt Gerechtigkeit sagen Ordnung? Ist denn Ordnung nicht Gerechtigkeit? Die Epistel lehrt eine Ordnung der Auferstehung, ein Nacheinander im Anziehen des unsterblichen Leibes. Die Lebenden zur Zeit der Wiederkunft des HErrn sollen den Todten nicht vorkommen, sondern ihnen nachfolgen. Erst sollen die Todten bekleidet, dann die Lebendigen überkleidet werden. Ist in dieser Erweisung ewiger Barmherzigkeit nicht eine heilige Gerechtigkeit, in dieser Ordnung nicht Gerechtigkeit?

 Sie wünschen immer, nicht zu sterben, bis komme, der da kommen soll! Als ob sie Gottes Ordnung umkehren könnten, umkehren dürften! Wenn sie aber das weder können, noch dürfen, warum muß so ungeschicktes Reden aus ihrem Munde gehen, so ungeschicktes Reden − und so unkluges dazu!

 Weil die Todten eher mit Christo vereinigt werden, − eher der Seele nach, im Nu und vom Nu

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/552&oldid=- (Version vom 1.8.2018)