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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Ephes. 5, 15-21.

 ICh will dich in ein Studium einführen, mein Freund, das für kein Studium angesehen wird und doch ein Studium ist und überdieß ein recht herrliches. Ich meine das Studium der Tugend. − Du sprichst: die Tugend ein Studium? Ich antworte: Ja, ein Studium! Meinst du etwa, weil die Tugend ein Studium sein soll, so müße sie aufhören, der Seelen heilige, männliche Lust zu sein? Wem Studieren Plage ist, die sind nicht rechte Studierende. Die bringens am weitesten, welche studieren, ohne daß sies wißen, die ihr Vergnügen beim Studium suchen. So kann ja auch die Tugend ein heiliges Vergnügen sein, und bleibt doch ein Studium. Nicht allein die Füße und Hände, nicht allein das Herz, nein, auch der Geist hat in ihr sein Geschäfte. Wem schreibst Du Weisheit zu, wem Vorsicht, wem das Geschick sich in Zeiten zu schicken, Zeiten auszukaufen? Ists nicht der sinnende, schauende, forschende Geist, der allem Thun, auch dem des Tugendhaften, Maß und Art verleiht? Wenn du aber das zugibst, so wirst du auch zugeben müßen, daß die Tugend ein Studium ist! Es fällt kein Gelehrter vom Himmel, es wird kein Weiser, kein Vorsichtiger, kein Geschickter geboren! Sie lernen es alle erst werden, und der HErr und Sein Geist leiten sie auf ebener Bahn. Wohl dem, der in dieser Schule lernt und gerne lernt! Wohl dem, der nachsinnt, wie er vorsichtiglich wandele und wie er sich in die Zeiten schicken soll!

 Ach es ist böse Zeit! die böse Zeit machts schwer, sich in sie zu schicken. Fromm sein und sich doch in die böse Zeit schicken, das ist keine Kleinigkeit! Man fährt wohl oft durch die Klippen, aber mit Schaden − und das sollte nicht sein. Man schickt sich wohl oft in die böse Zeit, aber so, daß man selbst dabei böse wird! Was denn dann? Schlechtes Studium! Das kann man ohne Studium. Sei vorsichtig − nicht, daß dein Schifflein, sondern daß du selbst nicht anstoßest und Schaden leidest! Schicke dich also in die böse Zeit, daß du gut seiest, bleibest, werdest! Dringe hindurch mit Schlangenklugheit, so jedoch, daß du Taubeneinfalt bewahrest, − oder es ist nichts und du geräthst dem Versucher in die Stricke!

 Ach HErr, es ist alles, was recht ist, so fern von uns! Wir sind so gar von allem, was Du willst, das Gegentheil! Wir können von Deinem Wollen nicht reden, ohne unsern Willen zu tadeln! Wir können vom heiligen Studium des Guten nicht reden ohne Seufzen, ohne daß unser Geist bekennt: Ueber allerlei bin ich studierend geseßen, aber nichts hat mir je weniger Studium gekostet, als die Tugend − und ich habe gar selten mich besonnen, wie ich in ihr ein Meister sein oder werden könnte!

Da helfe uns der Helfer zu allem Guten!
Amen.

Am einundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Ephes. 6, 10–17.

 ICh habe schon einmal gesagt, daß es wahr ist, was diese Epistel vom bösen Stündlein satanischer Anfechtung sagt, − und es ist eine Schande, daß man es einmal sagen muß, geschweige daß man sich aus guten Gründen entschließen muß, es zweimal zu sagen. Es ist ja genug, daß es der Apostel sagt. − Aber ich wiederhole es − und dieß Mal für die Pfarrer. Es gibt zahllose Angefochtene, ja es gibt Gegenden, wo, mit den Aerzten zu reden, Anfechtungen endemisch sind. Das erste, was die armen Geplagten thun, ist, daß sie zu den Pfarrern gehen. Die wißen nichts, fangen mit Läugnen des Zustandes an und verbinden sich mit den Aerzten, die oft, wo möglich, noch weniger, als die Pfarrer, verstehen, wie man mit Angefochtenen umgehen müße. Was geschieht? Die armen Leute laufen zu Pfarrern von andern

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/549&oldid=- (Version vom 1.8.2018)