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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

tobten, einige ruhig saßen. Er strafte die Ruhigen mit den andern, darum daß sie das Beßere erwählt hatten, ohne versucht zu haben, ob es nicht auch den andern mitgetheilt werden könnte. Das war paulinische Weisheit! Wüßte sie nur jeder Lehrer in rechter Weise anzuwenden. An sich selber ist sie kein Fehler, sondern von vielen nicht begriffene, beßernde Weisheit! − Merke drum: die Kirchen hier bestehen aus Auserwählten und bloß Berufenen, aber jene sind für diese verantwortlich! Bete, daß du fleißig seiest in beßernder Liebe! Bete, daß es mit dir viele seien, − daß man nicht so schnell den langsamen Schüler JEsu aufgebe, − daß man die Langsamen in die Mitte nehme! Bete, daß die Kirche würdig werde, so behandelt zu werden, wie sie St. Paulus in seinen Briefen behandelt!


Am neunzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Ephes. 4, 22–28.

 WAs für Anforderungen stellt der HErr in diesem Texte an uns! Wir sollen den alten Menschen, der uns mit seiner Art durchdringt, wie die Luft, ausziehen, wie einen Rock! Im Geiste unsers Gemüthes sollen wir uns erneuern, − den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit, das Bild Gottes, das uns so sehr abhanden kommen ist, daß wir nicht einmal eine volle Vorstellung davon haben, sollen wir anziehen! Und was sollen wir nicht alles! − Sagt doch derselbe HErr, daß man vom Dornstrauch keine Trauben und von den Disteln keine Feigen lesen könne! Warum will Er denn vom Dornstrauch die Früchte des ewigen Lebensbaumes und die Süßigkeit der Himmel von den Disteln? Ja, warum predigt man immer: „Thut das“ und „Laßt das“, da doch beides nicht in der Macht derjenigen steht, die Er anredet? − Erinnere dich, um Antwort zu bekommen, von Wem der Apostel im Texte dergleichen fordert und du wirst bald einsehen, wie es möglich ist. Nicht vom Dornstrauch des Menschen, der Fleisch vom Fleisch geboren ist, sondern von dem, welcher aus dem heiligen Geiste neu geboren ist, verlangt er des Geistes Früchte. Es ist, wie Augustinus betet: „Gib, was Du befiehlst, und befiehl dann, was Du willst.“ Er gibt erst das Wollen und die Vollbringungskräfte, ehe Er das Vollbringen verlangt. Er legt in deine Hände das Opfer, das Ihm angenehm ist, − und du vermagst alles durch Den, der dich mächtig macht. Darum steht ja auch geschrieben: „Von Ihm und durch Ihn und zu Ihm sind alle Dinge!“

 Du brauchst also keine Angst darüber zu haben, daß du nicht weißt, woher nehmen, was bezahlt werden soll. Du brauchst nicht die Kammern deiner Armuth zu durchsuchen, um geben zu können. Wie die Augen der Mägde auf die Hände ihrer Frauen, so schau du auf die reichen, milden Hände Gottes − und vergiß nur nicht, wo sie zu finden sind, wo sie geben. Stell dich ein, wo Seine Haushalter die von der Welt her verborgenen geheimen Schätze austheilen. Stell dich nur ein, so wirst du dein bescheiden Theil, selbst wenn du dich nicht hinzudrängst, doch bekommen. Stell dich ein und bewirb dich betend, und du wirst um so mehr nehmen und empfangen. Sprich nicht: Ich bin so lange im Speisehaus der Seelen anwesend gewesen, ich habe mich eingestellt, so oft zu eßen und zu trinken gegeben wurde, und ich bin doch nicht satt worden. Sieh nicht auf das, was dahinten ist, streck dich nach dem, was da vornen ist. Vielleicht hast du die Schuld, vielleicht war Gottes Stunde noch nicht da, das mag sein, wie es will; so viel bleibt gewis, Gottes Stunde kommt, Er läßt keinen des geistlichen Hungers sterben, Er will, daß allen Menschen geholfen werde, daß sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, daß sie Leben und volle Genüge haben, daß sie Seine Heiligung empfangen. Warte nur, harre nur − Er wird aus dir Dornstrauch eine fruchtbare Rebe machen. Er wird geben, daß dir bei apostolischen Forderungen das Herz sich voll Muth und Kraft bewegt, daß, was die Welt erschreckt, Gottes Gebote dich erfreuen, daß du den ersten der Psalmen mit Halleluja beten könnest.

 Meines Lebens Lauf − wie lange noch wird er dauern? HErr, laß ihn nicht verlaufen, ehe ich Dein also bin, daß ich Deine Werke fröhlich thue! Amen.


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/548&oldid=- (Version vom 1.8.2018)