Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/545

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am fünfzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Galat. 5, 25 − 6, 10.

 ES ist eine Stelle der heutigen Epistel, welche wir unsern Lesern insonderheit ins Gedächtnis prägen und im Andenken erhalten möchten. Wir meinen den ersten Vers des 6. Capitels: „Lieben Brüder, so ein Mensch etwa von einem Fehl übereilet würde, so helfet ihm wieder zurecht mit sanftmüthigem Geiste, die ihr geistlich seid; und siehe auf dich selbst, daß du nicht auch versucht werdest.“ Wie viel findet man im Leben, das gegen diesen Spruch anstößt! Gleichwie einst die Novatianer keinen Gefallenen in die Kirche mehr aufnehmen wollten; so entlaßen heut zu Tage viele auch ihre treubewährten Freunde aus Liebe und Hoffnung, so wie sie von einem Fehl oder einer Sünde übereilt worden sind. Was ist gerade unter den angesehensten Christen gewöhnlicher als Aussprüche wie diese: „Der und der kann kein Christ sein, denn er hat das und das gethan. Wie könnte er so reden, wenn er ein Christ wäre? Es ist nichts mit ihm, denn er war da und da auch dabei. Seitdem ich das und das von ihm gehört habe, mag ich ihn nicht mehr. Ich mag nichts mehr mit ihm zu thun haben, denn das und das hat mir an ihm gar nicht gefallen“ etc. etc. Und dieser scharfe, strenge Richtersinn geht oft so weit, daß er auch keine Beßerung hofft, da die Liebe doch alles hofft. Ja nicht bloß hofft man nicht mehr, sondern wenn offenbare Zeichen der Beßerung zu neuer Liebe und neuem Vertrauen einladen, glaubt man doch nicht, sondern man setzt irgend etwas ins Mistrauen. Fast sieht es da so aus, als sollte nicht geschrieben stehen: „Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr;“ sondern: „Wer gesündigt hat, ist verloren.“ Was würden diese feinen und ehrbaren Christen von David für eine Hoffnung gefaßt haben, da er des Mordes und Ehebruchs, von Petrus, da er in Antiochien offenbarer Heuchelei schuldig geworden, von den Aposteln Paulus und Barnabas, da sie miteinander über Marcus zankten, − − ach, von so vielen, vielen Christen, deren Lebenslauf nicht dem stillen, einförmigen Gang eines Wiesenbachs, sondern dem Gebirgsbach gleicht, der unter Hindernissen und Tosen dem Ziele zugeht? − − Ja, ja, lieber Leser! Laß michs nur sagen! Diese vornehmen Christen glauben oft nicht an die Bekehrung eines Sünders, dessen grobe Sünden vor der Leute Augen lagen! Sie sehen einen Augustinus, auch wenn er Bischof geworden ist, um seines frühern Lebens willen mit scheelen Augen an, und können Achtung und Ehrerbietung vor keinem faßen, der nach großen Sünden zur Heiligung hindurchdrang! − − Und dies Benehmen nennen sie dann christliche Klugheit − und wer sie nicht hat, wer dem Sünder nachgeht und ihn zurechtweist, den nennen sie, wenn es ihm nicht gelingt, die Seele zu retten, einen unerfahrenen Menschen, deß Mislingen sie ja voraus gewußt und gesagt hätten, − ja sie nennen ihn, wenn er längeren Athems dem Verlorenen nachläuft, der Zöllner und Sünder Gesellen. Sie würden die Kleider wischen, wenn sie neben Magdalenen sitzen müßten, auch nachdem sie die köstliche Narde himmlischer Liebe Christo JEsu geopfert hat.

 Ach laßet mich, ihr Heiligen! Ihr seid ja doch selbst nur gleißende Gräber! Ihr seid es und wißet es nicht! Oder wißet ihrs und thut dennoch so? Dann seid ihr nicht bloß Heuchler, sondern auch Schüler des hochmüthigen Geistes, der im tiefsten Bewußtsein sein Verderben trägt − und andern feind ist, die weniger böse wie er sind, aber eben doch nicht Er.

 Gib uns, Du Sünderfreund, geduldige Liebe zu den Sündern! Hilf uns, HErr, die Nachrede der feinen Christen tragen, welche die glänzende Gerechtigkeit des eigenen Lebens höher achten, als die Barmherzigkeit Gottes in Christo JEsu! Ach, lieber HErr, verzeih uns die täglichen Sünden und lehr uns mit Deiner Kirche die Worte beten: „Reinige Deine Christenheit von ihren Sünden und − Lastern.“


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/545&oldid=- (Version vom 1.8.2018)