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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Heiligkeit, hält den Spiegel der Heiligkeit dem Menschen vors Angesicht, auf daß er sich erkenne in seinem fernen Abstand von dem Ziel der Heiligkeit und ihm die Sünde desto sündiger, die Gnade desto lieblicher werde. So hilft das Gesetz dem Menschen zur Gnade hin. Aber auch die Gnade, die das Testament verhieß, Christus brachte und der Geist austheilt, hilft dem Gesetze zur Verklärung. Indem der Mensch Gottes Gnade empfängt in Vergebung der Sünde, empfängt er Lust zum Guten und Kraft dazu. Es ist derselbe Geist, welcher Glauben wirkt und im Glauben Liebe und Heiligung. Liebe aber ist des Gesetzes Erfüllung − und Heiligung des Gesetzes Ziel.

 Die Verheißung richtet das Auge zum Ziele, das Gesetz treibt zu demselben, die Zeit der Erfüllung reicht es dar, der Glaube, der mit der Predigt kommt, ergreift es − und bringt damit vollkommene Zufriedenheit dem armen Sünder und nicht das allein, sondern Wollen und Vollbringen des Guten.

 Deine heilige Ordnung, o HErr, sei meine Ordnung − und Dein Geist leite mich auf Deiner ebenen Bahn!


Am vierzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Galat. 5, 16–24.

 ES ist ein großer Unterschied − ohne Gesetz sein und nicht unter dem Gesetze sein. Ohne Gesetz sein ist nicht der Christen Sache, aber unter dem Gesetze sein, ists auch nicht. Aber nicht ohne Gesetz, und doch auch nicht unter dem Gesetz sein, das ist christlich und schön.

 Unter dem Gesetze sein − deutet nicht auf eine Erfüllung des Gesetzes, sondern auf eine harte Sklaverei des Gesetzes. Wer seine Pflicht anerkennt, dem Gesetze zu gehorchen, − aber auch seine Schwachheit und Bosheit und seine Uebertretungen, − wer sich deshalb des Fluches würdig erachtet, den das Gesetz ausspricht, − wer ohne Mittel, dem Fluche zu entgehen, ohne Kraft zu einem heiligeren Wandel, doch immer nur mehr beschwert, beladen und mühselig wird, − der erfährt den angstvollen Zustand eines Menschen, der nicht ohne das Gesetz, aber unter dem Gesetze ist.

 Wer hingegen das, was das Gesetz befiehlt, als seine Pflicht erkennt − und mit Lust und Kraft zur Ausführung bringt, − von keiner Schwachheit irre gemacht, von keinem Straucheln müde, ja von keinem Fall zum Abfall gebracht: − wer seine Freude am Guten hat, wenn es ihm gelingt und wenn es ihm nicht gelingt; wenn es ihm gelingt, den HErrn für Seine Gnade preiset; wenn es ihm nicht gelingt, dennoch am Guten hangt; von jeder Reue über einzelnes Mislingen zu desto größerem Eifer angespornt wird; nicht vor der Strafe sich fürchtet, die in Christo JEsu erlaßen ist, aber von Liebe zu Gott und dem, was Sein ist, getrieben wird, weil er göttlichen Geschlechtes ist: Der ist nicht unter dem Gesetze, sondern frei von dem Fluch und Treiben desselben; und doch ist er nicht ohne das Gesetz, weil er liebt und verlangt, was es befiehlt. Ihm ist zum freien Willen geworden der Befehl − und die Last des Befehls zur Lust.

 Ach, wenn man doch auf Erden dahin käme, daß die zwei Zustände des gesetzlichen und freien Wesens nicht mehr zugleich in uns wären, sondern das freie Wesen des Geistes allein uns belebte! Wenn doch, wie der Strom zum Meere, so unser Wollen unaufhaltsam zum Guten eilete! Aber da geht es uns, wie dem heiligen Paulus Röm. 7: Den Geist gelüstet wider das Fleisch, das Fleisch wider den Geist − und darum ist des Gesetzes Drohen mit der Wißenschaft von der Freiheit vom Gesetze auch zugleich in uns. Unser Verlangen ist nicht unaufhaltsam, geht selten in voller Kraft zum Guten, − und unsere Seele schwankt zwischen Furcht und Frieden. Wir vollbringen nicht des Fleisches Werke, wir bringen des Geistes Früchte, aber es geht mit Noth und Mühe, da wir doch wißen, daß es in Kraft und Macht, mit Lust und Wonne gehen könnte, gehen sollte. Wir kreuzigen das Fleisch − aber nicht wie jubelnde Helden, sondern wie Leute, die am Siege sterben wollen! Unsre Theilnahme am Streite der heiligen Kirche − beugt uns in den Staub, daß wir rufen müßen: „Die Güte des HErrn ist es, daß wir nicht gar aus sind!“


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/544&oldid=- (Version vom 1.8.2018)