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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am siebenten Sonntage nach Trinitatis.
Römer 6, 19–23.

 KEiner will Knecht sein, jeder frei! Und doch ist keiner, der frei und nicht Knecht wäre. Wer kann sagen: ich bestimme in allen Fällen über mich, mein Thun und Laßen? Wer lebt ganz aus sich heraus und aus seiner innersten Ueberzeugung? Ich will von äußerem Zwange schweigen, von dem Zwange der Gewalt, der Verhältnisse, der Rücksichten; aber wer ist von vorgefaßten Meinungen frei, ganz frei, wer wacht so über seine Neigungen, daß er gerechtfertigt wäre, so oft er der Neigung Einfluß läßt und gibt? − Und daß wir nur von jeder Sache reden, wie es vor Gott recht ist: wer ist denn von jener Macht der Sünde frei, welche der heilige Paulus Röm. 7. so sehr nicht bloß im Namen anderer, sondern auch im eigenen Namen beklagt! Ja die Sünde ist eine Macht in uns − und ehe wir erwachten, zu scheiden Gutes und Böses, hat sie von unserm Willen und von unsern Kräften Besitz genommen. Sie herrscht − also, daß wir nicht thun, was wir wollen, und im Gegentheil thun, was wir nicht wollen. Wir sind − und warum sollten wir nicht gestehen, was kein Mensch leugnen kann? − Sklaven der Sünde! Viele in der Welt führen gewaltige Worte von der Freiheit, aber es ist nur ein Geraßel der Sclavenketten der Sünde, was man von ihnen vernimmt! Damit wird keiner von den Ketten frei, daß er sie schüttelt! − O die Thoren, die von Freiheit träumen, während sie Knechte der Sünde sind, während ihre Freiheitsträume selbst nichts anders sind, als Beweise ihrer Knechtschaft, als Erzeugnisse der Königin Sünde, die in ihnen ist! − − Ja, es gibt eine Freiheit, die von keiner Knechtschaft vernichtet und geknechtet werden kann, − eine Freiheit, die in allen Feßeln trösten kann, − eine Freiheit, ohne welche jede andere doch nur ein Traum ist! Und diese Freiheit ist selbst nur wieder eine Unterthänigkeit, eine Knechtschaft, deren sich jeder zu rühmen und keiner zu schämen hat. Wir meinen die Freiheit von der Sünde, welche ist ein Dienst der Gerechtigkeit, − die Freiheit, die sich mit Lust und Macht der angeborenen Sündenherrschaft entreißt, und Schwert und Lanze, ja Leib und Leben der Gerechtigkeit zu Füßen legt. Hier ist die seligste Selbstbestimmung, hier ist die freieste Hingabe, wohl dem, der in dieser Weise thätig sein kann! − Aber zu dieser Freiheit genes’t der Mensch nicht durch eigne Anstrengung, nicht durch Erweckung in ihm schlummernder Kräfte, sondern durch den Geist, der von der höchsten Burg des Himmels ausgeht und in unserm Geiste ein Neues wirkt, − durch den Geist Christi, des Sohnes Gottes, der gesagt hat: „Wenn euch der Sohn frei macht, dann seid ihr recht frei!“

 Wäre ich doch frei vom Joch der Sünde! So weit hast Du mich geführt, HErr, daß ich diesen Wunsch von Herzen äußern kann! Es ist Dein Werk, daß ich mein Wohlgefallen nicht mehr in der Sünde, sondern in der Gerechtigkeit ruhen sehe! Wäre ich doch Dein, Du gerechter Gott! Den Sold der Sünde − ich zahl ihn nicht mehr, er ist gezahlt. Ich erkenne mich frei von diesem Solde − aber wenn ich doch völlig frei wäre von der unlieben Herrschaft, daß mir der Sold des Todes nicht wider Willen gezahlt würde! Wär ich doch Dein, ganz Dein, und mein die Gabe Gottes, das ewige Leben! Ich harre des HErrn, meine Seele wartet auf Deine Hilfe!


Am achten Sonntage nach Trinitatis.
Römer 8, 12–17.

 NIcht mehr ein Knecht der Sünde bin ich, sondern ein Erlöseter unsers HErrn JEsu Christi! Nicht mehr ein Knecht der Sünde, also auch Dir, o HErr und Vater der Geister, nicht mehr misfällig! Ich streite nicht mehr um das Böse und für das Böse, sondern um das Gute für Dein Reich. Meine Seele zittert

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/539&oldid=- (Version vom 1.8.2018)