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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am Feste der allerheiligsten Dreieinigkeit.
Röm. 11, 33–36.

 WIr faßen das kaum, das auf Erden ist (Joh. 3, 12.), und wenn von der Wiedergeburt die Rede ist, wird ein Meister in Israel, ein Nikodemus, zum abgeschmackten Frager: wie sollen wir faßen, was im Himmel ist? Vor unsern Augen sind Freiheit und Nothwendigkeit, Gottes Wahl und der Menschen Wahl so von einander verschieden, daß wir urtheilen müßen: diese kommen so wenig irgendwo und irgendwann zusammen, als zwei Parallellinien. Das Geheimnis des HErrn ist unausforschlich − und die hohen Reden des Apostels in unserm Texte, welche von Gottes Gnadenwahl handeln, sie sind gerecht und alles Volk soll sagen: Amen. Faßen wir aber nicht, was im Himmel ist, wie werden wir Den faßen, der im Himmel ist, den Meister der barmherzigen, gnädigen Wahl und den Vater der Wiedergeburt! Wie Seine Werke, so ER, der Meister, und ER noch mehr! Drei sind, die da zeugen im Himmel von dem Einen, den wir lieben, der uns selig macht, − und die Drei sind Eins! Gewohnter Schall − aber ein Räthsel dem Inhalt nach, das niemand und kein Engel löst. So ists − aber stille vor Ihm alle Welt! Gott, Dich lobt man in der Stille zu Zion, die Unbeschnittenen an Herzen und Lippen aber sind es, die da von Dir schwatzen. Im Bekenntnis des heiligen Athanasius ist das große Thema zu wunderschönen, gerechten Variationen angewendet: − wie ganz dasselbe sagt dieß Bekenntnis, wie 1. Joh. 5, 7! Aber gewohnt sind sies nicht von Jugend auf, wie den Spruch! Drum merken sie, was sie beim Spruche nicht mehr merken, das Räthsel, das Menschen unmögliche, unausforschliche, unzugängliche − und drum sind sie dem heiligen Bekenntnis feind. Aber wir halten es fest − und wenn wir anbetend niederfallen an Deinem Feste, dreieiniger, ewiger Gott, dann stimmen wirs an mit lautem Schall − und beten an Den, von welchem, durch welchen und zu welchem alle Dinge geschaffen sind (V. 36.), und aus der Tiefe der Seele beten wir: „Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.


Am ersten Sonntage nach Trinitatis.
1. Joh. 4, 16–21.

 WEnn Gott nicht die Liebe wäre, so müßte die Liebe größer sein als Gott, denn sie umfaßt Gott und Seine Creaturen und ist ein Element aller Wesen. Aber Gott ist die Liebe − und göttlichen Geschlechtes ist niemand, als der, welcher Liebe hat. Wer Liebe hat, hat in sich ein Zeugnis Gottes und göttlichen Lebens und die Liebe gibt ihm ein Anrecht auf alle ewigen Seligkeiten, denn sie ist ewig. Die Liebe ist Eine − und doch eine andere, je nachdem sie in diesem oder jenem Wesen wohnt. Gottes Liebe − sie umwallet alles, wie das Meer, − völlig, mächtig, reich, tief und stille, heilig, selig und schöner, als alles, − und schrecklich denen, die sie anfeinden. Der Menschen Liebe? Ja, wie ist der heiligsten Menschen, der frömmsten Christen Liebe so anders! Was ist der Strom, der vom Lande her zum Meere geht, gegen das Meer? Was ist ein Bach auf Fluren gegen das Meer? Es ist alles Waßer − aber das Bächlein und das Meer, so verwandt sie sind, so sind sie doch sehr verschieden. Wie klein ist unsre Liebe zu Dir, o HErr, − und wie arm ist sie für unsre Brüder! Auch wenn wir uns auslieben aus voller Seele, wir

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/534&oldid=- (Version vom 1.8.2018)