Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/517

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die ihn, wie es geschrieben steht, in Irrtum verderben wollen. Hie gilt es eine heilige Bewährung − und eine große Weisheit ist nöthig, die nemlich, welche der innerste Sinn von dem Ausreißen des Auges und von dem Abhauen der Hand und des Fußes ist, wovon der HErr im Texte spricht. Es gilt, die Versuchung und damit die Gefahr zu umgehen, sie abzuschneiden, zu entfernen, sie unstatthaft − ja gar unmöglich zu machen. Der Unerfahrene redet von Ueberwindung aller Hindernisse − der Erfahrene und Einfältige läßt sich mit Hindernissen nicht ein, sondern geht grade durch sie hin, ohne mit ihnen anzubinden. Er will nicht zum Ritter an ihnen werden, sondern er vermeidet, so viel es von ihm abhängt, den Kampf und bleibt am Wort und Mund JEsu. Lieber ein Auge, einen Fuß, eine Hand verlieren, als dadurch geärgert zu werden, verführt zu werden zum Bösen und von der Einfalt! Ja, ja, das ist Mannesweisheit, bei Manneseinfalt, − und so vermeidet man männlich Gefahren, die zu bestehen man keinen Beruf hat. So wird durch eine von Gott geschenkte Manneskraft die Kraft des Aergernisses abgehalten und vernichtet, für deren Abwendung in Anbetracht der Kinder nicht diese selbst, sondern wie wir oben sahen, andere verantwortlich gemacht werden. Ein Zustand der eifrigen Hingabe an die Leitung JEsu und Seines Wortes, bei welchem man Versuchungen, statt sie zu überwinden, mit aller Macht vermeidet, abschneidet und entfernt, scheint freilich ein verächtlicher zu sein, − etwa wie der des schwachen Kindes, von welchem andere die Aergernisse abwehren, sie annehmen, sich ihrer annehmen sollen, weil sie so wehrlos und den Pfeilen des Bösewichts so sehr offen stehen. Dagegen aber zeigt der HErr im Texte, daß der Zustand der Hingabe und reinen Aufopferung an Ihn ein sehr würdevoller und im Reiche Gottes hochgeschätzter sei. Er zeigt es an der Kindereinfalt − und überläßt es den Seinen, einen verstärkten Schluß auf die Einfalt zu machen, zu welcher man umkehren soll, wenn man sich im Lauf des Lebens von ihr entfernt hat, auf die Manneseinfalt.

 Was für ein schwaches, zartes Geschöpf ist die Einfalt eines Kindes: wie leicht ist sie angehaucht von dem Pesthauch des Bösewichts und seiner Braut, des Teufels und der Welt! Und doch, wie groß und hochgehalten ist die süße Pflanze! Alle Heiligen haben Befehl, sie aufzunehmen, sich ihrer anzunehmen; wer es thut, dem ist es, als hätte er sich JEsu angenommen, und er bekommt einen großen Lohn. Dagegen ist schwere Strafe den Verführern gedroht: Aergernis und Verführung ist hoch verboten und verpönt. Gottes Gebot und Gottes Verbot wird der süßen Kindereinfalt zu Schutz und Schirm gegeben. Den Aposteln ist verboten, einen Kleinen zu verachten. Die Engel, welche Gott und dem Stuhle Seiner Offenbarung zunächst stehen, die allezeit Sein Angesicht sehen, also die größten und herrlichsten Engel, haben Befehl, Engel der Kleinen zu sein und sie vor Aergernis und Fahr zu schirmen, ihnen Leib und Seele zu bewahren. Und Er Selbst, der Sohn Gottes, der König der Engel, redet nicht allein in diesem Evangelium zu Gunsten der Kleinen, herzt und segnet sie nicht allein, Marc. 10.; sondern unter allem, was verloren ist, sind sie Sein geliebtestes Augenmerk und auf sie insonderheit gesagt ist der Spruch: „Des Menschen Sohn ist kommen, selig zu machen, was verloren ist.“

 Man muß keine Augen haben, wenn man nicht sieht, daß Kindereinfalt in den Augen JEsu hoch und groß und theuer ist. Aber man hat wohl auch keine sehr scharfen Augen, wenn man nicht sieht, daß es dem HErrn im Texte nicht um Kindereinfalt, sondern um Manneseinfalt, nicht um die Einfalt, welche von Natur bei allen Kindern ist, sondern um die Einfalt zu thun ist, welche in allen Männern, die da eingehen wollen in’s Himmelreich und groß drin werden, wachsen und werden soll. Ist aber das, dann wird nicht bloß von den Gefahren, sondern auch von der Würdigkeit und dem Werthe der Kindereinfalt der verstärkte Schluß auf die Manneseinfalt gemacht werden sollen. Es wird geboten sein, den Mann in seiner Einfalt zu fördern, − verboten, ihn zu ärgern. Es wird dem Mann − bei seinem Unterschied vom Kind − selbst verboten sein, sich stören zu laßen und Aergernis zu nehmen. Kein Apostel im Himmel, kein Engel vom Himmel wird den zur Einfalt heimkehrenden Mann verachten dürfen, alle werden ihm dienen sollen, − und Er Selbst, der HErr und Heiland, wird mit besonderem Wohlgefallen Sich zu den Verlorenen neigen, die sich so gerne finden laßen: groß werden sie sein in Seinem Reiche und groß wird Er sie machen ewiglich. Denn klein werden vor Ihm bringt Großwerden in Ihm und wer unter Seinem treuen Einfluß treulich bleibt, sich Seiner Regierung ohne Wanken untergibt,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/517&oldid=- (Version vom 31.7.2016)