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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Gottes als anreizendes, zum Eifer aufforderndes Beispiel der Klugheit empfohlen findet. Man soll am Kinde lernen, was man an ihm lernen kann, − thut man das, so wird man eben dadurch nicht bloß dem Kinde gleich, sondern über das Kind erhoben. Man soll am Kinde die Schönheit der Einfalt, der Jüngerschaft, der Empfänglichkeit, des Strebens und Werdens lernen − kehrt man aber von dem entgegengesetzten Zustand um und wird man, wie das Kind; so wird man über das Kind gestellt. Denn Männereinfalt ist mehr als Kindeseinfalt, und ein Mann, der Jünger, im demüthigen Lernen und Forschen, in der Schule JEsu bleibt, der hat nicht bloß, was Kinder haben, sondern mehr. Er hat die Eigenschaft, bei welcher man zum Himmelreich gelehrt werden kann; denn die nichts auf eigene Weisheit und Tugend halten, sondern sich kindlich zum Munde JEsu halten, diese demüthigen Männer finden eine offene Thür zum Reiche − und bleiben sie, wie sie eingehen, wird es ihr Fleiß und Eifer, sich zu erniedrigen vor Gott und Seinem Worte, und wie Kinder in Seiner Schule zu sitzen, so werden sie damit groß im Himmelreich. Denn eine immer demüthigere und in sich selbst ärmer werdende, immer reiner sich dem HErrn vertrauende und hingebende Seelenrichtung, die ist zugleich Bedingung und Anfang aller wahren Größe und von ihr gilt es: „Wenn Du mich demüthigst, machst Du mich groß!“ − Kein Hoffärtiger geht ein zum Himmelreich; aber je demüthiger und kleiner ein Mensch vor Gott wird, desto mehr wird er mit Gaben und Gütern Gottes erfüllt, desto größer wird er im Reich und unter seines Gleichen.

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 Hier habt ihr nun, meine Lieben, den Zustand, ohne den man nicht ins Himmelreich geht und der groß macht im Himmelreich. Er heißt Einfalt − Kindeseinfalt ist Vorbild, Manneseinfalt ist Urbild − mit Kindeseinfalt beginnt der Mensch den Lauf, in Manneseinfalt läuft alle Vollendung aus. Aber die Einfalt hat ihre Gefahren − und das ist es, was der HErr im Verlauf des Evangeliums zeigt. Er zeigt es wieder an den Kindern. Das Kind ist einfältig, seinem Lehrer und Erzieher ergeben, jedem Einfluß offen − aber eben damit auch dem Aergernis und der Verführung. Je empfänglicher das Kind, desto näher ist es dem Himmel, aber desto näher ist es auch der Hölle, desto leichter wird es ein Spielball guter und böser Kräfte, desto gefährlicher und bedenklicher ist seine Lage zwischen beiden mitten inne. Darum will der HErr, daß man ein Kind, je wahrhaftiger es Kind ist, auch desto mehr in’s Auge faße und es aufnehme in Seinem Namen, aufnehme gewis nicht bloß in’s Haus zu leiblicher Pflege, denn der Gegensatz des Aufnehmens ist Aergernis, d. i. Verführung zur Sünde. Der HErr will, daß man die Kinder aufnehme und ihnen helfe gegenüber allen Aergernissen, daß sie Sein bleiben und sich je länger, je treuer Seinem heiligen Wort und Sacramente hingeben; − und Sein Wehe trifft die, durch welche den Kindern Aergernis gegeben wird; mehr als den Mühlstein am Hals droht Er den Verführern der Kinder, wie ihr aus dem Text gesehen habt. Indes redet der HErr im Texte nicht hauptsächlich von den Kindern, so vollkommen alles auch auf Kinder paßt, ja, von ihnen entnommen wird. Er redet von Kindereinfalt, und will von Seinen Jüngern und für sie Manneseinfalt, und wenn Er von den Gefahren der Kindereinfalt redet, denkt Er gleich auch an die Gefahren der Manneseinfalt. Das beweist sich aus V. 8 und 9, wo Er von Aergernissen, von Verführungen redet, die aus der eigenen Seele entspringen und Hand und Fuß und Auge in ihren Dienst nehmen und zu ihren Werkzeugen machen. Diese Aergernisse finden sich weniger beim Kinde, als bei dem reiferen Menschen, wie denn auch der HErr ihretwegen die reifen Männer anredet. Dem Menschen, der umkehrt, der nicht mehr, wie die Kinder der Welt, die Mannheit in das fertige, abgeschloßene, Anerkennung und Rücksicht fordernde Wesen der Alten setzt, sondern in eine männlich besonnene, entschloßene Rückkehr zu neuem Anfang, zu ununterbrochenem Fortschritt − nicht selbständig, sondern an der Hand des HErrn, der mit St. Paulus nicht ansieht, was dahinten, sondern das, was vornen ist, − bei dem Empfänglichkeit und treue Jüngerschaft zur dauernden Verfaßung seiner Seele wird: dem begegnen auch eigenthümliche Gefahren. Er achtet, er bemerkt, er erwägt alles − siehe, da wird er auch seine eigenen inneren Regungen mehr gewar, da drängen sie sich auf und fechten ihn an und wollen ihn abwendig machen von der Einfalt in Christo. Ein Mann, der zur Einfalt umkehrt, sollte auf gegebene Aergernisse nicht achten, das sollte sein Unterschied von dem wehrlos jedem Aergernis bloß gegebenen Kinde sein; aber siehe, er nimmt Aergernis und wird nicht frei von der Anfechtung seiner Lüste,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/516&oldid=- (Version vom 31.7.2016)