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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sie gewürdigt ist, einen solchen Besuch zu empfangen. Und gewis! Das war nicht bloß die Sprache der sich selbst erniedrigenden Bescheidenheit, sondern es ist das Urtheil der Wahrheit, denn Elisabeth sieht in der gebenedeiten Frucht Mariens ihren HErrn, − in Marien die Mutter ihres HErrn, − diesem hohen Besuche hüpft Freuden- und Geistes voll selbst die Frucht ihres Leibes entgegen. Mächtig ergriffen ruft sie ihr: „Woher kommt mir das?“ − Engel grüßen die Gottesmutter mit hohem Freudenton, Prophetinnen erkennen wonnevoll ihre hohe Würde, Propheten im Mutterleib hüpfen, wenn sie kommt und mit ihr Er Selbst: wie nimmt sich’s aus, wenn Manns- und Weibspersonen unserer Tage, voll Sünde und Verkehrtheit, darin insonderheit ihren geistigen und geistlichen Fortschritt zu erweisen suchen, daß sie anders als Engel und Propheten von Marien reden, daß sie über ihre Mängel reden, die klein sind, und ihrer großen Würde schweigen? Laßt uns doch lieber einstimmen mit Engeln und Propheten als mit den Menschen des gegenwärtigen Tages, die im Finstern reden und sich hellen Tages Kinder zu sein rühmen.

 Es ist eine tiefe und wunderbare Erkenntnis, welche Elisabeth empfangen hat. Sie kennt ja ihren HErrn − und nennt Ihn so, nachdem Sein leibliches Leben kaum begonnen hat im Leibe Seiner Mutter. Aber es wird ihr nicht bloß der HErr und Seine Mutter offenbart, sondern der Geist des HErrn läßt sie auch, was sonst keines Menschen Sache ist, Blicke in die Seele Mariens und in die inwendige Herrlichkeit derselben thun. „O selig bist du, ruft sie, die du geglaubt hast.“ Also weiß sie, was Marien verkündigt ist, wie groß und herrlich es ist, − und daß sie in von Gott geschenktem Lichte sich ganz dem HErrn ergeben und glaubend all sein seliges Erbieten zum voraus angenommen und bestätigt hat. Kleines erfordert kleinen Glauben, Großes aber großen. Gibt es Größeres, als was Marien verheißen wurde? Sie glaubte − also hatte sie großen Glauben. Der HErr sieht ihn an − und tröstend, ermuthigend muß Elisabeth, die Prophetin, alles bestätigen, was noch nicht erfüllt ist. „Selig bist du, die du geglaubt hast; denn es wird vollendet werden, was dir gesagt vom HErrn.“ Also ein König Israël, ein ewiger König eines ewigen Reiches, ein Gottessohn, ein JEsus und Heiland wird der sein, der geboren werden wird, der bereits im Dasein ist. Es wird alles, alles vollendet werden, auch was in ferne Zeiten und Ewigkeiten greift.

 Ihr möget nun urtheilen, ob nicht wahr ist, was ich sagte, daß Elisabeth eine Prophetin ist, daß sie eine hohe Erkenntnis hat, daß der HErr Seinen Heiligen jener Tage ein Licht und Leben gab, durch welches ihnen gewisser Maßen ersetzt wurde, was sie hier nicht mehr sehen und erleben sollten, den Kampf und Sieg des Heilands. Wenn ich euch hierauf, meine theuern Brüder, den Lobgesang Mariens − ich will nicht sagen, nach Würden, denn was vermag ich? − sondern nur so weit eingehend aus- oder darlegen sollte, wie die Prophezei Elisabeths, so würde ich weder Zeit, noch Raum finden für ein so großes Werk. Luther schrieb eine Auslegung des Lobgesangs Marien, des sogenannten Magnificat. Er schrieb sie zu einer Zeit, wo er von einer falschen Anrufung Mariens noch nicht frei war, denn er ruft in der Vorrede noch Mariens Hilfe zum Werke der Auslegung an. Dennoch ist diese Auslegung alles Dankes werth. Auf sie verweise ich alle, welche einer eingehenden Auslegung begehren. Sie ist aber ein Buch, ein Buch von Meisterhand, die sich zu faßen, zu ordnen, kurz zu faßen und kurz zu ordnen wußte. Wie groß und weit müßte meine Rede, mein Buch, meine Auslegung werden, wenn ich es wagen wollte, sie zu beginnen? Ich gebe euch zur Feier des Tages nur eine Einleitung, eine kleine schwache Uebersicht über diesen Lobgesang, diesen Psalm der Psalmen, den die alte Kirche jeden Abend im Gotteshause sang und sein nicht müde wurde, den auch wir singend und anbetend beßer faßen werden, als bloß lesend und auslegend.

 Ein Ausbruch des Lobes und der Freuden sind die zwei ersten Verse des Psalms. „Meine Seele erhebet den HErrn und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.“ Lob- und Freudenton feiert „Gott, den Heiland“. Meint die Jungfrau unter Gott, dem Heiland und Erretter, den, der in Verbindung mit der Gottheit, unter ihrem Herzen einem großen Tage entgegenwuchs, − oder ist „Gott, der Heiland“ ohne Beziehung auf Ihn? Wenn Er ihr Heiland und Erretter ist, wovon heilt und errettet Er sie? Doch nicht von Armuth und zeitlichem Elend, das ihr lebenslang blieb und unter dem Kreuze sich so schrecklich mehrte? Die Gottesmutter kennt die Verlorenheit der Seelen, das

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/512&oldid=- (Version vom 31.7.2016)