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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Sohn des Höchsten genannt werden“, spricht er, und „das Heilige, das von dir geboren wird, wird Gottes Sohn genannt werden.“ Meint man etwa, Gottes und des Höchsten Sohn heiße Christus nur wegen der unmittelbar göttlichen Empfängnis Seiner Menschheit? Dann wäre der Engel von Maria und den Aposteln und allen Heiligen misverstanden worden, welche alle, wie die Schrift Zeuge ist, in jenen Ausdrücken das Zeugnis der göttlichen Natur des HErrn erkannten. Ist Er aber Gott und Mensch, so ist Er’s in einer Person − und das Kindlein, das aus Marien kommt, ist Gott und Mensch, − in Folge deßen aber, ohne thörichten Misverstand, im kirchlichen Verstand Maria eine Gottesmutter. − Läßt sich nun, meine Lieben, denken, daß die Auswahl Gottes ein an sich unheiliges, gewöhnliches, geringes Mädchen traf? Ist etwa Mariens Loos und Stellung eine hohe, ihre Seele aber, ihre geistliche und geistige Begabung das Gegentheil? Widerstrebt uns nicht die ganze Seele, wenn wir versuchen, den Gedanken aufzunehmen, daß die größte aller Frauen eine unbekehrte, ungeheiligte und dazu gemeine Person gewesen sei? Welcher Zusammenhang ist inniger und zarter, als der zwischen dem Kindlein, das unter dem Herzen der Mutter liegt, und der Mutter selbst: und es sollte wahr sein, daß der Heilige Gottes eine Mutter gehabt habe, wie sie hinter allen Zäunen gehen, daß Maria eine gewöhnliche und geringgesinnte Jungfrau gewesen sei? Die, welche Engel so fragen und Engeln so antworten kann, wie Maria, deren Antwort an den Engel das heiligste Beispiel und der vollendetste Ausdruck einfältiger Ergebung an Gott ist, kann, abgesehen von allem andern, was wir von ihr lesen und wißen, keine andere, als eine Heilige Gottes, ein von Gottes Geist bereiteter Tempel und heiliger Pflanzort Immanuels gewesen sein. Es gilt die Begegnung, welche sie von Gott und Seinen Engeln erfährt, zunächst und vor allem ihrer Mutterschaft, aber sie würde eine andere gewesen sein, wenn diese Jungfrau nicht sittlich rein und heilig, nicht eine Magd des HErrn vom Herzensgrund gewesen wäre. Sie hat Gnade bei Gott gefunden − der Geist kommt über sie − die Kraft des Allerhöchsten überschattet sie − den Immanuel gebiert sie: jedes Wort des Engels faßt sie, glaubt sie, bewegt sie, − und Einen Ton des Lebens behält sie. Ihr gebührte hier auf Erden und dort im Himmel der Gruß, der hohe, ehrenvolle des Engels; auch wir werden sie dermaleins so grüßen, − und ihr danken für all ihr heilig Beispiel, dem HErrn aber für all die Gnade, beides, der hohen Stellung und der inneren Vollendung, welche Er der demüthigsten Seiner Mägde aus dem Abgrund Seiner Güte geschenkt hat.


 Wenn man heute nicht so von Marien spräche, an ihrem hohen Ehrentage, wann wollte und dürfte man es denn thun? − Als die Kirche reformirt wurde, fanden die Reformatoren Marientage und Marienfeiern genug und über genug vor. Es mußte − auch zu Ehren der Mutter Gottes, die ja fast zum Götzen oder wirklich und ganz und gar zum Götzen gemacht wurde, − ausgefegt werden. Die Kirche, der wir angehören, behielt deswegen nur solche Marientage bei, welche zugleich Feste JEsu waren. Unter diesen beibehaltenen Tagen aber gab es keinen, der herrlicher gehalten worden wäre, als der heutige, der Tag der Verkündigung Marien. Man behielt die Marientage bei, welche zugleich Feste JEsu waren, nicht daß man Marien’s Andenken hätte ungefeiert laßen wollen, wenn man anderes von Maria gewußt hätte, als was Beziehung auf JEsum hat. Warum sollte denn die Kirche, die doch den Magdalenentag so gerne feierte und dem Täufer sogar zwei Gedächtnistage, einen darunter von großer Feier, widmete, nicht der frommen Magd, der heiligen Mutter, auch um ihrer selbst willen gedacht haben? Doch nicht etwa, um dem Misbrauch der Römischen entgegenzutreten, da man ja weiß, daß Misbrauch den Gebrauch nicht aufhebt und daß durch rechten Gebrauch der Misbrauch mächtiger gestraft wird, als durch Nichtgebrauch! Aber man weiß ja außer dem, was die Schrift enthält, von Maria nichts Sicheres − nichts von ihrer Geburt, nichts von ihrer Heimfahrt. Alles, was wir sicher wißen, ist aus der Schrift genommen − und das steht auch alles in der innigsten Verbindung mit JEsu Selbst und mit Seiner Geschichte. Darum feiern wir so manchen schönen Marientag nach der Schrift − keinen ohne Schrift − am liebsten aber den heutigen, den Verkündigungstag, der zugleich Empfängnistag Christi ist und als solcher nicht mit Unrecht die „Wurzel der Zeiten“ genannt wurde, denn alle unsre seligen Zeiten und Ewigkeiten wurzeln in ihm.

 Heute also feiern wir genau genommen das Fest

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/508&oldid=- (Version vom 31.7.2016)