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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

erscheinen und allen bekannt gemacht und von allen geglaubt werden soll, auf daß sie alle selig werden, wie Simeon, der getrost sterben kann, weil er an den Heiland glaubt, und fröhlich sterben kann, weil er weiß, daß Er da und erschienen ist, weil er Ihn auf den Armen gehabt und mit den Augen gesehen hat. Diese evangelische, diese paulinische Erkenntnis spricht nun aber Simeon nicht bloß allgemein hin aus, sondern er zerlegt sie auch ausdrücklich, auf daß sie unzweifelig und unzweideutig erscheine. Du hast, sagt er, Dein Heil bereitet vor allen Völkern, „ein Licht, zu erleuchten die Heiden, und zum Preis Deines Volkes Israël.“ Also dieser Knabe wird der Heiden Licht − und Israëls Preis, Israëls Herrlichkeit. Also haben alle an Ihm Theil, die andern Völker wie Israël, und Israël wie die andern Völker: Er ist ein Heiland der Welt, an welchem alle, die in die Welt kommen, welches Volkes und Stammes sie auch seien, lernen sollen, wie weit und groß die Güte und Gnade Gottes reicht. − Diese Erweiterung des zweiten Theils vom Doppelsatze, oder eigentlich diese Erklärung des Wortes „Heil“ oder Heiland ist es, welche dem Lobgesang bei aller Einfalt die Großartigkeit und Gewalt gibt, die er hat. Von Simeon, vom sichern Glücke Simeons beginnt sein Schwanensang, − zur Ursach, zum Grunde aller Simeons-Freuden schreitet er fort, − und mit dem Antheil aller Völker an dem Grunde, an der Ursach aller Freuden Simeons schließt er. Eine Freudensonne schaut Simeon, − ihr zunächst steht seine Seele, − und mit ihren Freudenstrahlen erfüllt sie die Welt: eine von seligem Lichte bestrahlte Welt sieht Simeon, − und damit sieht er vor seinem Tode mehr, als Mose beim Blick nach Canaan.

 Zwischen dem ersten und zweiten Theile unsers Textes scheint, liebe Brüder, keine Verbindung zu sein. Der alttestamentliche Theil der Reinigung Mariens und Opferung JEsu und der neutestamentliche, evangelische von Simeons Lobgesang scheinen lose, unzusammengehörig nebeneinander zu stehen. Bei der Darstellung Lucä scheint es fast, als wäre die Reinigung und Darstellung nur ein Anlaß zu der schöneren Geschichte, nur eine äußerliche Gelegenheit für die Anknüpfung der Erzählung von Simeon gewesen. Allein es scheint doch nur; es scheint öfter so, und ist nicht so. Wie wenn der HErr nicht in den Tempel gekommen wäre, wie wenn Er Sich nicht anheischig gemacht hätte, das Gesetz zu erfüllen, wie wenn Er nicht unsre Schuld und die Unreinigkeit unserer Geburt auf Sich genommen hätte, nicht unser Bürge worden wäre: wäre Er dann Simeons Todesfreude und großer Friede, ein Licht der Heiden und der Preis Israëls und seiner Herrlichkeit geworden? Hätte Er es sein und werden können? Man sieht, der erste Theil des Evangeliums redet von der Ursache, der zweite von den Wirkungen, und beide gehören auf das Engste zusammen: es gibt keine Wirkungen ohne Ursache. Die Wirkungen sind freudenreich, die Ursache aber ist nöthig, damit es solche Wirkungen gebe. So laße man beide zusammen, nachdem sie Gott in Seiner Weisheit wie in der Erzählung, so in der natürlichen Folge verbunden hat.


 Es ist ein lieber, lichter Tag, welchen wir heute feiern, ein Lieblingstag des Volkes in dieser winterlichen Zeit. Die Geschichte des Textes stimmt auch zum Jahre und Jahreslaufe. Es ist winterliche Zeit, aber es neigt sich der Winter zum Abschied, die Sonne beginnt wärmer und feuriger zu scheinen. Da paßt die Ablösung des alttestamentlichen Wesens durch das neue Testament, des alten Winters der Welt durch den Frühling, der mit dem jungen Christus vor der Thüre ist, so schön. Jedermann fühlt, auch wenn er sich’s nicht bewußt wird, welch großen Eindruck eine göttliche Wahrheit macht, wenn sie durch natürliche Vorgänge faßlich und heimatlich gemacht wird. Wohlan, genießen wir fröhlich, was Gott uns an diesem Tage reicht. „Die Stellvertretung JEsu unser Friede, unser Todesfriede, unsre Himmelsfreude, − unser Lobgesang, unser Schwanensang, aller Völker Lob- und Preis- und Schwanengesang!“ Das werde uns wahr, das werde den Völkern wahr! Gott richte Seine gnädigen Augen auf uns und helf uns JEsum finden und selig sterben! Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/504&oldid=- (Version vom 31.7.2016)