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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Tages lebt. Wenn man nun seine Lebenszeit, sonderlich die einzelnen Zeitabschnitte, in denen man auch von Erwartung des jüngsten Tages mehr als sonst ergriffen ist, und nach dem Sinne unseres Textes nüchterner und wachsamer ist, dazu anwendet, die heilige Schrift zu erforschen und zu erfahren, und sich in die Schule des heiligen Geistes, der uns in alle Wahrheit einführt, zu begeben: so hat man die Weisheit der klugen Jungfrauen, die zu guter Zeit und ehe sie im Harren und Warten ermüdeten, das Oel herbeischafften, das sie nachher zur „Schmückung“, d. h. zur stärkeren Entflammung ihrer Lampen so trefflich brauchen konnten. Prüfung und Erfahrung der Schrift, Hingabe an den Geist des HErrn, der uns so gerne lehrt, wirkt im Menschen, auch wenn ers gar nicht beabsichtigt, viel Brenn- und Zündstoff für die Hoffnung und für die Freudigkeit unter den Schrecken des jüngsten Gerichts. Trägheit in der Erkenntnis und Erfahrung der Schrift rächt sich in allen Fällen, sonderlich am jüngsten Tage, wo man eine reiche und starke Glaubensüberzeugung braucht, um durch den allgemeinen Umsturz dem HErrn Christo mit hellen Lampen und bräutlicher Feier entgegenzugehen. Diese Thorheit brandmarkt sich, jene Klugheit empfiehlt sich selbst; wer Ohren hat, zu hören, faßt sich und ergreift einen Entschluß am Ende des Kirchenjahrs, künftighin in der Schule des heiligen Geistes und Seines Wortes fleißiger zu sein.

 Meine Brüder! Heute schließt ja, wie ich schon andeutete, das Kirchenjahr. Erleben wir den nächsten ersten Adventsonntag, so wird gleich das erste Wort, welches uns vom Altare aus Gottes Wort gelesen werden wird, das sein, was wir in der Adventsepistel Röm. 13, 11. lesen: „Die Stunde ist da, aufzustehen vom Schlafe, sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wirs glaubten“. − „Wachet“, schließt heute die evangelische Lection, − „wachet, denn ihr wißet weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschensohn kommen wird.“ − „Die Stunde ist da aufzustehen vom Schlafe“, dringet und dränget das neue Jahr. Von welchem Schlafe soll man aufstehen? Vom Schlaf der Sicherheit, da man an keine Wiederkunft Christi, noch jüngsten Tag denkt. Und welches Heil ist jetzt näher als in der ersten Zeit des Glaubens? Christus, unser Heil, der Bräutigam der Seelen! Ach, wir müßen ja näher am Ziele sein, wir dürften und sollten daher aufwachen und einmal anfangen, für die heilige, große Zukunft zu leben: unser ganzes Leben sollte endlich in Bezug auf den jüngsten Tag gelebt werden. Sind wir aber ja zu sehr angesteckt von der sichern, nächtlich finstern Welt, ach, so sammelt doch wenigstens Oel, so forschet nur in der Schrift und gebt euch in die Schule des heiligen Geistes, „auf daß ihr immer mehr reich werdet in allerlei Erkenntnis und Erfahrung, daß ihr prüfen möget, was das Beste sei, auf daß ihr seid lauter und unanstößig bis auf den Tag Christi, erfüllt mit Früchten der Gerechtigkeit, die durch JEsum Christum geschehen in euch zu Ehre und Lobe Gottes.“ (Philipp. 1, 9–11.) Amen.




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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/500&oldid=- (Version vom 31.7.2016)