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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

allen Christen wiederum sollen die Prediger Gott loben und preisen, wie auch die Hirten nach ihrer Predigt gethan haben. Wer predigen durfte, kann und soll lobsingen. Von der Predigt zum Lobgesang ist ein Stufengang; doch predigen nicht allein, die auf den Kanzeln stehen, sondern alle Christen, ein jeder seinem Hause, seinem Kreiße, und so sollen auch alle lobsingen − und die Ehre Gottes soll überall einkehren in die Hütten der Frommen, damit sie von da heimkehre zum Himmel. Das gilt von allen Tagen unsers Lebens, insonderheit aber von den Festtagen der Christen und vom Festtag der Geburt unseres Heiles.


 Liebe Brüder! Engel sehet und höret ihr nicht; Christum in Seiner Krippe und Seine heilige Umgebung könnet ihr nicht mehr schauen, wie die Hirten; auch höret ihr nicht Augen- und Ohrenzeugen wie die Bethlehemiten. Aber einerlei Botschaft wie die Hirten, wie Maria und die Bethlehemiten vernehmet ihr. Ihr höret allerdings diese Botschaft und Predigt nur durch uns arme Prediger; aber hinter uns, die wir in Schwachheit reden, ist eine Kirche von achtzehen hundert Jahren, eine unzählbare Schaar von Zeugen, an deren Spitze die Engel, die Mutter Gottes, die Hirten, die Apostel stehen. Unser armes Zeugnis wird stark, wenn ihr bedenket, daß wir im Namen von so vielen Tausenden und Millionen vor uns Zeugnis ablegen, ja, wenn ihrs recht verstehen wollt, auch im Namen so vieler Tausende oder Millionen, die noch kommen werden und grade so zeugen wie wir. Es ist eine unabsehbare und, davon finden wir gewisse Weißagungen des HErrn, immerzu wachsende Zeugenwolke, in deren Namen wir reden − und es dürfte um des willen unserm Zeugnis Vertrauen entgegen kommen.

 Aber so vertrauenswürdig auch unsre Predigt und unser Zeugnis von der Menschwerdung Gottes ist; so wirkt es doch nicht leicht mehr das, was es zur Zeit und aus dem Munde der Hirten wirkte: Verwunderung. Wir alle haben das Zeugnis von der Menschwerdung schon im frühesten Lebensalter vernommen, wo man zum Glauben geneigt ist und sich über nichts oder über alles wundert. Wir sind unter dem Tone dieses Zeugnisses herangewachsen, es hat durch Gewöhnung das Wunderbare verloren, und es ist uns, wenn wir Gottes Menschwerdung hören, als vernähmen wir etwas, das nun einmal so und ganz natürlich ist. So kommt es, daß für uns die Ordnung der Wirkungen, welche wir von der Predigt der Menschwerdung empfangen, eine veränderte und nicht mehr dieselbe ist, wie zur Zeit der Hirtenpredigt. Verwunderung ist nicht mehr die erste, sondern die letzte Wirkung. Doch ist die Verwunderung in der Ordnung, in welcher wir zu ihr gelangen, von größerem Werthe. Wenn sie so spät kommt, ist sie bleibender, stärker, eine Mutter ewigen Preises und Lobgesangs. Ja, je mehr wir hören, desto beßer faßen, behalten, bewegen wir, desto mehr werden wir auch selbst bewegt, desto mehr wächst in uns die freudige, lobpreisende Verwunderung und wird endlich vollkommen, wenn wir das Angesicht Christi seliglich schauen. Es gibt schwere Zeiten im Christenleben, wenn uns nemlich Gottes Wort und Botschaft wie ein unfruchtbarer Dornstrauch oder wie ein abgenutztes, verbrauchtes Geräth vorkommt; aber das sind Zeiten der Demüthigung und Anfechtung, durch welche Gott jede Seele gnädig führe; im Ganzen wird das Christenherz je älter, desto ergriffener von dem Wort des HErrn, fast möchte man sagen, desto jünger, − denn es ist in der That ein Gefühl der Jugend und jugendlicher Freude, wenn sich, je mehr das Leben welkt, die Herrlichkeit des göttlichen Wortes mehr erschließt und freudige Verwunderung über Gottes Güte und Treue uns von Tag zu Tag geleitet.

 In Erinnerung des vermahne ich euch, geliebte Brüder, daß ihr euch den Weg gefallen laßet, der uns angewiesen ist. Was euch in diesen Tagen gepredigt wurde, oder noch gepredigt wird, das faßet, behaltet, beweget. Der HErr aber bewege dann selbst eure Herzen, und schenke euch die Freude, aus welcher unsre Predigt von der Menschwerdung stammt und zu welcher sie führt. Er laße euch inne werden, daß euch ein Heiland geboren ist, − ja nicht bloß geboren, sondern auch für euch gestorben, auferstanden und zum Himmel erhoben. Er schenke euch allen freudige, unsterbliche Verwunderung über Seine Gnade und verkläre sie in euch zur ewigen Anbetung! Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 039. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/50&oldid=- (Version vom 22.8.2016)