Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
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unterscheiden. Darum kann im Wachen an sich die von dem HErrn gerühmte himmlische Klugheit nicht bestehen. – – Es wird zwar anders werden. Es gibt und gab zu allen Zeiten des langen Schlafens einzelne Wächter, welche Gott hie und da erweckte, daß sie auf die Warte traten und sahen, ob die Nacht schier hin ist. Es wird immer solche einzelne Wächter geben − und eine Zeit wird kommen, da werden sie die Zeichen des Bräutigams erkennen. Es wird Mitternacht sein, d. i. alles wird in tiefem Schlafe liegen, gar kein Wachen, kein Warten, kein Hoffen auf die Wiederkunft Christi wird vorhanden sein − und zur Zeit der sorglosesten, allgemeinsten Sicherheit, während welcher die Kirchen sich in Erwartungslosigkeit der Welt werden gleichgestellt haben: da, grade da, werden die einsamen Wächter mächtig rufen: „Siehe, der Bräutigam kommt; gehet aus, Ihm entgegen.“ Ihre Stimme wird Kraft haben, die Kirchen werden den bekannten Ruf hören; aber sie werden ihn alle hören − alle werden aus dem Schlafe fahren, nun werden sie die längst erwartete Zukunft von Nahem sehen, wer wird nun schlafen können, die Christen werden wachen bis in die tiefste Seele hinein, − und am Wachen an und für sich selbst wird man dann eben so wenig als vorher am Schlafe die Klugen von den Thörichten scheiden können − und das Unterscheidungszeichen der Klugheit und Thorheit wird drum in etwas anderem bestehen müßen.
Zur Zeit, wo der Bräutigam kommt, wird es Nacht sein, d. h. es wird nicht bloß tiefer Schlaf, tiefe Sicherheit und Sorglosigkeit auf den Menschen liegen, also daß sich niemand des Himmels Einfall wird träumen laßen; sondern man wird auch, wenn man aufwacht und die Zeit erkennt, nichts sehen, es wird dunkel sein, nicht bloß stille, − und wenn man nun dem Bräutigam entgegengehen soll, so wird man, da kein natürlich Licht am Himmel steht, andere Lichter haben müßen, die Brautlampen werden brennen müßen − damit man an ihrem Schein entgegengehen und den Bräutigam hereinführen kann zu seiner Braut. Wenn dann also die Brautlampen hell und munter brennen, dann wohl! Aber wie, wenn das Licht verlöschte mitten in Finsternis − in jener Nacht und Finsternis, in jenen entscheidungsvollen, von ewigen Folgen schweren Stunden und Augenblicken: welch ein Schrecken! Man sieht und merkt wohl hier, noch ehe man das Gleichnis völlig versteht, worin die Klugheit und Thorheit der Kirchen und Jungfrauen besteht. Oel genug, Nahrung für die Lampe und ihr Licht, auf alle Fälle Oel und Nahrung genug herbeischaffen, daß nicht im wichtigsten Augenblick die Lampe verlösche: das ist Weisheit und Klugheit der Kirchen, die auf Christi Wiederkunft warten. Gewis, meine Theuren, ihr gebt mir Recht, wenn ich sage: „Nicht das Wachen selbst ist Weisheit, nicht das Schlafen Thorheit, − jene Weisheit hat niemand, diese Thorheit befällt alle, wie der Schlaf den Müden; aber die wache Zeit, die man wirklich hat, benützen, um Oel genug herbeizuschaffen; so lang man wacht, also wachen, daß man nicht das Wichtigste verschläft, − das ist Klugheit. Die klugen Jungfrauen schlafen zwar ein, aber sie haben gesorgt, daß sie beim Erwachen Oel genug haben, darum sind sie klug; die thörichten Jungfrauen wachen zwar auch auf, da die Wächter rufen, aber sie waren eingeschlafen, ohne für Oel gesorgt zu haben, und das war ihre Thorheit.“ − Gewiß, wiederhole ich, ihr gebt mir recht, denn ihr leset ja: „die Thörichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen nicht Oel mit sich; die Klugen aber nahmen Oel in ihren Gefäßen sammt den Lampen.“ Aber ihr werdet sagen: was ist Licht, was ist Oel? Und ihr habt Recht. Daran liegt alles. Entweder lernen wir das, dann ist die Hauptsache und alles im Gleichnis klar; oder wir finden das nicht, und dann gehen wir hungrig von dannen und ungeweiset, wie wir klug werden sollen für den jüngsten Tag.
Man soll am jüngsten Tage, wenn das Geschrei erschallt, dem HErrn entgegen gehen. Es werden am Geschrei der Wächter und an den Zeichen des Menschensohnes nicht bloß die Jungfrauen, die Kirchen und Christen, erwachen und erkennen, was es nun gilt, sondern alle Menschen, alle Geschlechter der Erde. Aber es wird ein gewaltiger Unterschied sein zwischen den andern erwachten Menschen und den erwachten Christen. Jene werden voll Schrecken sein, denn für sie kommt kein Bräutigam und keine Hochzeit, sondern ein gestrenger Richter, Ungnade und Zorn, Trübsal und Angst − und darum werden heulen alle Geschlechter der Erde. Diese aber werden eben wißen, daß alle die schrecklichen Ereignisse des Endes der Zeit ihren Charakter nicht nehmen können; sie werden wißen,
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/498&oldid=- (Version vom 31.7.2016)