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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Charakter der heiligen großen Zukunft des Endes und der Ewigkeit. Im Glauben und in der Liebe leben, wahrlich, das ist selig und heilig, aber das Glaubens- und Liebesleben bekommt doch dann erst seine herrlichste, schönste Gestalt und sein innerlich blühendstes Leben, wenn es ein Leben in Hoffnung und in der Ehrfurcht des kommenden ewigen HErrn und Heilands ist. Wer für irgend eine Zukunft lebt, der hat ein jugendliches, strebendes, rüstiges Leben, − und nun erst für jene große Zukunft des jüngsten Tages leben, das bringt dem ganzen Wesen des Christen die bräutliche Feier, welche, wo sie erscheint, mächtig ergreift und ein lautredendes Zeugnis davon ist, daß der Christ nicht von dannen ist, sondern seinen Wandel, seine Bürgerschaft im Himmel hat.


 Ohne Zweifel die größte Rede im 24. und 25. Capitel Matthäi ist die letzte, welche das Evangelium des vorigen 26. Sonntags nach Trinitatis bildete. Wenn man den großen Vergelter unter der auferstandenen Menschheit gleichsam stehen sieht und richten hört: was für eine Majestät ist es und wo in aller Welt fände sich Aehnliches zu lesen oder zu hören! Da lernt man, wie aus einem Blick hinter den aufgerollten Vorhang der Ewigkeit, verstehen, was St. Paulus Röm. 2, 6 ff. predigt: „Er wird geben einem jeglichen nach seinen Werken, nemlich Preis und Ehre und unvergängliches Wesen denen, die mit Geduld und guten Werken trachten nach dem ewigen Leben; aber denen, die da zänkisch sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber dem Ungerechten, Ungnade und Zorn; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die da Böses thun; Preis aber und Ehre und Friede denen, die da Gutes thun.“ Mit einem mächtigeren Tone, als diesem Tone aus der Posaune des Weltgerichts ist es nicht möglich, ein Kirchenjahr zu schließen: der Ton ruft alle verborgenen Kräfte der Seelen in den Dienst der thätigen Liebe und des lebendigen Glaubens. Von einer allerdings ganz anderen Beschaffenheit ist das Evangelium des heutigen, selten eintretenden 27. Sonntags nach Trinitatis. Es lebt auch ganz von den Kräften des Endes und der zukünftigen Welt, wie das Evangelium des vorigen Sonntags und wie alle Reden des 24. und 25. Capitels Matthäi; aber es unterscheidet sich doch auch sehr merklich von allen. Das Gleichnis von dem bösen und guten Knecht schildert die hohe Verantwortlichkeit, welche das Thun und Laßen der neutestamentlichen Amtsträger und ihre Berufsthätigkeit innerhalb der angewiesenen Gemeinden und Arbeitskreiße hat. Das Gleichnis von den anvertrauten Zentnern fordert Angesichts der Wiederkunft des HErrn die eifrigste Thätigkeit aller mit Amt und Gabe Betrauten für die Ausbreitung des Reiches Gottes, für das Wuchern mit Gottes Pfunden zum Heil der Welt. Das Evangelium des letzten Sonntags, die letzte Rede des HErrn, an dem großen Dienstag an die Seinen gehalten, preist unter dem Schein und Morgenroth des jüngsten Tages die edlen Werke der Barmherzigkeit und bezeugt das Wohlgefallen Christi wie am Wittwenscherflein, das Er beim Ausgehen aus dem Tempel segnete, so an jedem Becher kalten Wassers, dem Durstigen gereicht. Alle diese Reden preisen eine heilige Thätigkeit und Geschäftigkeit; aber das heutige Evangelium von den zehn Jungfrauen redet von keinem Thun nach außen hin, sondern von einem feierlich ruhenden Warten auf den HErrn und von der Klugheit, die man bei diesem Warten haben soll, und eben damit zeigt es, worin die größte Vollendung des der Zukunft geweihten Christenlebens besteht.

 Das wundervolle Textesgleichnis schließt sich an die Sitte des Morgenlandes an. Am Abend des Hochzeittages kommt der Bräutigam in Begleitung seiner Freunde, seine Braut heimzuholen. Die Braut wartet seiner festlich im Vaterhause. Ihre Freundinnen aber, die Jungfrauen, gehen mit hellen Lampen freudig dem Bräutigam entgegen und führen ihn ein zu seiner Braut, daß er sie aus des Vaters Haus heimführe in sein eigenes Haus. − Herrliche Anwendung, welche in unserem Texte die an und für sich schon so liebliche und würdevolle Sitte des Morgenlands findet! Der Bräutigam ist Christus − und Seine zweite Zukunft ist hier von der allerfröhlichsten Seite dargestellt, nemlich Seine Braut, die heilige Kirche und ihre wahren Glieder zu dem verheißenen ewigen Freudenleben mit Ihm selbst zu führen. Jedoch schweigt das Gleichnis von der Braut und gedenkt allein ihrer Gespielinnen, weil nicht das Bild der Braut, wohl aber das der Gespielinnen den erwünschten Anhalt bietet, von der Klugheit zu reden, welche

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/496&oldid=- (Version vom 31.7.2016)