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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am siebenundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Matth. 25, 1–13.
1. Dann wird das Himmelreich gleich sein zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen, und giengen aus, dem Bräutigam entgegen. 2. Aber fünf unter ihnen waren thöricht, und fünf waren klug. 3. Die thörichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen nicht Oel mit sich. 4. Die klugen aber nahmen Oel in ihren Gefäßen, sammt ihren Lampen. 5. Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig, und entschliefen. 6. Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; gehet aus, Ihm entgegen! 7. Da standen diese Jungfrauen alle auf, und schmückten ihre Lampen. 8. Die thörichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Oel, denn unsere Lampen verlöschen. 9. Da antworteten die klugen, und sprachen: Nicht also, auf daß nicht uns und euch gebreche. Gehet aber hin zu den Krämern, und kaufet für euch selbst. 10. Und da sie hingiengen zu kaufen, kam der Bräutigam; und welche bereit waren, giengen mit ihm hinein zur Hochzeit; und die Thür ward verschloßen. 11. Zuletzt kamen auch die andern Jungfrauen, und sprachen: Herr, Herr thue uns auf! 12. Er antwortete aber, und sprach: wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euer nicht. 13. Darum wachet; denn ihr wißet weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.

 ALs unser HErr vor dem geistlichen Gerichte stand und auf Verlangen Seine göttliche Abkunft mit einem Eide besiegelte, that ers unter ausdrücklicher, feierlicher Hinweisung auf Seine zweite Erscheinung, auf Seine Wiederkunft zum Gericht. Als Er unter Sein Kreuz gebeugt, unter den Thränen der Weiber Jerusalems zur Schädelstätte gieng, wendete Er Sich zu ihnen und verkündete ihnen Gottes Rache über Jerusalem. Bereits ganz zum Gotteslamm geworden, das unsre Sünden trug, führte Er die Sprache des von Gott bestellten Richters aller Welt. Ueberhaupt redete Er in Seiner letzten Woche viel von dem zukünftigen letzten Gericht und dem Gericht über Jerusalem. Die Nähe der großen Versündigung des jüdischen Volkes an Ihm, dem Heiland und König, mußte Seinem Herzen dergleichen Gedanken zuführen, und Seine unaussprechliche Liebe mußte Ihn reizen, diese Gedanken zur starken Warnung auszusprechen. Denkt an Seine thränenvollen Worte, welche Er schon beim Einzug in Jerusalem am Palmensonntag über Jerusalems nahendes Schicksal sprach; denkt an die unglückweißagende Verdorrung des unfruchtbaren Feigenbaums am Montag der Leidenswoche und an die gewaltigen Reden, welche der HErr am darauffolgenden Dienstag zum Beschluß Seines öffentlichen Lehramtes im Tempel gesprochen hat. Denkt insonderheit an den Kreiß von Reden, welche Er an demselben Dienstag, nach Niederlegung des Lehramtes, im engeren Kreiß Seiner Jünger beim Weggang vom Tempel, auf dem Oelberg und auf dem Weg nach Bethanien, gehalten hat. Er weißagte vom Ende der Welt und Jerusalems, Er sprach vom Lohn der guten, von der Strafe der bösen Knechte, von den zehn Jungfrauen, von den anvertrauten Zentnern, und zu allerletzt von dem endlichen großen Akte der Gerechtigkeit, welchen Er dermaleins unter der unzähligen Menge der Auferstandenen halten würde. Eine Rede, ein Gleichnis ist ernster und gewaltiger als das andere − und alle sind sie von Einem Gedanken getragen und durchdrungen: von dem Seiner Wiederkunft zum Gerichte. Diese letzten Reden JEsu, namentlich aber die von dem heiligen Apostel Matthäus im 24. und 25. Capitel aufbewahrten, sind nun aber nicht, wie manche vorher Seinen Feinden gegenüber gesprochenen, Ankündigungen von Rache und Zorn des Allerhöchsten, sonst würden sie die Gewalt über Seine Freunde nicht ausgeübt und behalten haben, welche ihnen eigen ist. Sie sind Warnungen und Ermunterungen an die Seinigen voll feuriger, mächtiger Liebe und haben dem ganzen Leben der Christen den vom HErrn gewollten Charakter aufgeprägt, welchen es auch in den besten Zeiten der Kirchen, namentlich den allerersten, unverkennbar getragen hat, − nemlich den Charakter eines Lebens, das von dannen weg und mit ernster Feier dem Tag der Erscheinung des Weltrichters entgegenschreitet, den

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/495&oldid=- (Version vom 31.7.2016)