Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/491

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Welch eine Wißenschaft des Endes setzt es voraus! Wie völlig vertraut mit Seinen letzten Geschäften ist der HErr, schon in den Tagen Seines Fleisches, daß Er uns auch alle Seine Worte voraussagen kann, zur Lockung und zur Abschreckung! Denn so, gerade so, wie Er es vorhersagt, wird Er thun und reden. − Laßt uns doch Seine Worte mit Ehrfurcht betrachten. Sie enthüllen uns die Gründe Seiner Urteilssprüche und sagen es uns klar, wonach Sein Gericht geschehen wird. Und was könnte uns nützer sein, als Kenntnis der Rechte und Gesetze, nach welchen aller Welt und auch uns das Urtheil gesprochen werden wird?


 Das Unterscheidungszeichen der Schafe JEsu von den Böcken ist ganz offenbar die thätige Liebe zu den armen, leidenden Brüdern JEsu. Gespeist und getränkt haben sie die Hungrigen und Durstigen, die Gäste beherbergt, die Nacketen bekleidet, die Kranken und die Gefangenen besucht. Dagegen die Böcke, welche verworfen werden, haben das alles unterlaßen. Es gilt also durchaus kein unbezeugter, that- und werkloser Glaube, sondern des Glaubens Dasein wird nach dem Segen, den er den Brüdern in heiliger Liebe wirkte, ermeßen. − Wollen wir dies, wie es sich geziemt, am Ende eines Kirchenjahres, für welches wir einst Christo Rechenschaft geben müßen, auf uns anwenden; so wird es uns nicht schwer werden, zu entscheiden, ob wir bisher zu Seinen Schafen, oder zu den Böcken gehört haben. Wir sind Seine Schafe, wenn wir Seine armen, leidenden Brüder mit thätigen Erweisungen der Liebe segnen und gesegnet haben, wenn wirs in der Weise thaten, wie uns unser Text und dem Text nach diese Predigt lehren kann. Gleichwie die Schafe keine Waffen haben, mit denen sie sich wehren oder schaden könnten, gleichwie sie durchaus Nutzen bringen und an ihnen nichts ist, das nicht den Menschen dienen könnte; so leben JEsu Schafe ganz Seinen Brüdern zu Nutz. Lieben und leben, nützen und leben ist für sie eins und gleichbedeutend. Also nicht ob du in diesem Jahre viel Nutzen gehabt hast, sondern wie viel du andern genützt hast, ist die Frage, welche du, dem Gerichte voranlaufend, dir selbst zu beantworten hast.


 Der HErr spricht im Gerichte: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nacket gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu mir gekommen.“ Wie meint ihr nun, liebe Brüder? Verlangt Er damit von den Seinigen, daß sie Ein Mal oder etliche Male im Leben Barmherzigkeit geübt haben sollen, oder verlangt Er, daß das ganze Leben eine fortwährende Uebung der Barmherzigkeit sein soll? Richtet Er bloß über barmherzige Stunden und spricht Er die frei, welche zuweilen eine Anwandelung von Barmherzigkeit oder eine barmherzige Stunde gehabt haben? Oder richtet Er über Lebensläufe, die geschloßen und in ihrer ganzen Strecke vor Ihm aufgedeckt liegen? Ohne Zweifel das Letztere. Wir sollen ja barmherzig sein, wie Er, und wann wäre Er nicht barmherzig? Oder könnte man etwa barmherzig sein, ohne barmherzig zu handeln? Geht doch der Mund und das ganze Leben von dem über, des das Herz voll ist! Der HErr wird gewis nicht mit uns zufrieden sein, wenn wir nicht barmherzig leben, so lange wir leben. Er wird uns verwerfen, wenn wir aufhören, barmherzig zu sein. Wenigstens von der Zeitfrist an, wo uns des HErrn Barmherzigkeit kräftiger erfaßte, wo uns Seine Liebe offenbart wurde, müßen auch wir ununterbrochen Barmherzigkeit wieder offenbaren und fortpflanzen. So lange wir in Christo sind, müßen wir, von Christi Geist getrieben, barmherzig leben, handeln, lieben, wenn nicht ein unbarmherziges Gericht über uns ergehen soll. Warum stecken wir also der Barmherzigkeit so enge, kurze Schranken? Warum üben wir sie so selten? Warum werden wir müde und verzeihen uns dann so leicht? Warum nehmen wir es so ungenau mit unserer Tugend, warum sind wir so leichtsinnig in dem, was uns obliegt? Sind wir denn Christen, wenn wir müde werden, Christi Brüdern zu dienen und uns der Nächste, der unser bedarf, zu oft kommt?


 Ihr fraget: wem sollen wir Barmherzigkeit erweisen? Wer ist unser Nächster? Wie denn der Mensch immer thut, als sähe er die nicht, denen er dienen soll, auch wenn sie ihm zu Hunderten vor Augen stehen!

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/491&oldid=- (Version vom 31.7.2016)