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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gieng, als der Tempel bereits brannte und die Wuth der Römer keine Grenzen mehr kannte, hofften sie noch auf den Erretter. Und als der Krieg zu Ende, das Volk seinem von Gott gewollten Schicksale schon erlegen war, trat doch immer noch ein Lügenprophet nach dem andern auf. Und wie die Juden, so die Heiden. Der Satan wendete alles an, Männer auf den Plan zu bringen, die den Christus Gottes mit Prophezei und Wundern überbieten und die Augen der Menschen von Ihm abziehen sollten. Da hieß es: „Siehe, hier ist Christus! Siehe, da!“ Falsche Propheten und Christi standen auf, thaten allerlei Zeichen und gauklerische Wunder und verführten viele. Und was noch ferner, in unsern oder in zukünftigen Tagen geschehen wird, wer weiß es? Es ist aber geweißagt, daß Teufelspropheten und das Kind des Verderbens auftreten und solche Zeichen und Wunder thun werden, daß, wo es möglich wäre, auch die Auserwählten verführt würden. − Ach die jammervolle Zeit! Was alles wird noch über den Erdkreiß kommen vor dem Ende? Welche Verführungen, welche Kräfte der Lüge werden spielen und die Seelen der armen Menschenkinder in ewigen Jammer zu bringen trachten!

 Und doch sind die Worte unsers HErrn so klar. „Geht nicht hinaus,“ spricht Er. „Glaubt es nicht,“ warnt Er. Kann denn etwas offenbarer, unwidersprechlicher sein, als die Thatsache, daß Christus gekommen, verklärt, gepredigt und in die Herrlichkeit aufgenommen ist, − daß also keiner mehr kommen kann, daß alles Warten vergeblich, und jedes Finden, deßen man sich rühmen könnte, ein Teufelsbetrug ist? Christus ist gekommen, nun steht nichts mehr bevor, als Seine Wiederkunft, und wie diese sich ereignen wird, das ist uns gesagt.


 Es ist nun, meine Brüder, schon über eilf Monate, seit wir am zweiten Adventsonntage von den Zeichen der zweiten Zukunft Christi gelesen und geredet haben. Erinnert euch an jene Wehen der Welt und an das eilende Kommen Christi, das uns damals geweißagt wurde. Unser Text vollendet jenes Bild. − Wir wißen, daß der HErr, unser Heiland, auch nach Seiner menschlichen Natur überall gegenwärtig ist und sein kann. Auf der Allgegenwart Seiner heiligen Menschennatur beruht die selige Lehre von Seiner Gegenwart im Sacramente. Wäre Er nicht allgegenwärtig, so könnte es ja auch nicht sein, daß zu einer und derselben Stunde Sein wahrer Leib, Sein theures Blut den verschiedensten, von einander entfernten Gemeinden gereicht würde. Er ist überall jetzt schon gegenwärtig, obschon wirs nicht sehen. Am Ende aber werden wirs nicht bloß glauben und es wird uns nicht bloß sacramentlich, sondern auch durch den Augenschein bestätigt werden. „Wie der Blitz ausgeht vom Aufgang und scheinet bis zum Niedergang, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes,“ − also eben so plötzlich und eben so schnell sich über alle Welt verbreitend, vor alle Augen kommend. Dann werden wir den Leib, den wir so oft genoßen haben, schauen, und wir werden keine Unterweisung brauchen, den HErrn in Seinem Leibe zu erkennen.

 Darauf, Brüder, und auf nichts anderes haben wir zu warten. Es ist die letzte Stunde, keine Weltzeit kommt mehr, als die, in welcher wir leben; was nun kommt, ist das Ende zur Zeit der Wiederkunft des HErrn. − Das wußten, das bedachten die Juden nicht, die in ihren großen, unbereuten Sünden auf Christum warteten. Sie kannten die Schrift nicht, nicht die Kraft Gottes, und sich kannten sie auch nicht. Hätten sie sich gekannt, so hätten sie ahnen können, was ihrem Volke bevorstand. Es war für sie die Zeit gekommen, da es hieß: „Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Adler.“ Sie waren kein Volk, zu deßen Erlösung ein Heiliger, geschweige der HErr Messias zu erwarten war. Ueber ihnen versammelten sich die Vögel, ihr Fleisch zu freßen. Ein Tag der Rache Gottes war vorhanden, von Gnade und Erbarmen war keine Rede mehr.


 Meine lieben Brüder! Ich habe nicht Ursache, mich zu denen zu rechnen, welche Lobredner vergangener Zeiten und blinde Verächter deßen sind, was der gnädige, barmherzige Gott in unsern Zeiten gibt und thut. Ich habe Gelegenheit gehabt, einige vergangene Zeitalter etwas genauer kennen zu lernen, und ich kann nicht sagen, daß ich einer früheren Zeit den unbedingten Vorzug vor der unsrigen geben möchte. Ist irgend ein Vorzug vorhanden, so streitet gleich auch ein derber Nachtheil mit dem Vorzug um den Rang, − und in der Summe mag sichs aufheben. Welt ist immer

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/488&oldid=- (Version vom 31.7.2016)