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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sind, wo die schönen Gottesdienste des HErrn, ihre heilige Zier und Schmuck in unangetasteter Ruhe geschaut werden und eine Zuflucht gejagter Seelen sein sollten; dann ist nichts mehr zu hoffen. Für ein solches Volk soll man das Schwert nicht mehr schleifen und die Rüstung nicht anlegen. Da ist nicht mehr von Heldenmuth und kriegerischer Tugend die Rede, denn man würde wider Gott streiten. Gehorsam ist unter allen Umständen das beste, und in dergleichen Fällen gebeut der HErr die Flucht, Trennung von einer solchen Sache, um deren willen das Heiligtum geschändet ist. Wie uns der Kirchengeschichtschreiber Eusebius erzählt, gab der HErr, der die Seinigen lieb hat, zur Zeit der Greuel der Gemeinde von Jerusalem durch einige bewährte Männer, die Offenbarung gehabt hatten, die Weisung, nun Seines Befehles zum Aufbruch und zur Flucht zu gedenken. Und die Gemeine gehorchte, die Gläubigen begaben sich über den Jordan hinüber in einen Landstrich zunächst dem todten Meere, in das dortige Zoar der Christen, in die Stadt Pella. So geschah es, mit dem Geschichtschreiber zu reden, „daß die Haupt- und Königsstadt der Juden und das gesammte Judäa gleichsam von heiligen Männern verlaßen war, als die Strafe Gottes für die an Christo und Seinen Aposteln begangenen Missethaten die Juden traf und jenes ganze gottlose Geschlecht völlig von der Erde hinwegtilgte.“ Wenn die Frommen aus einem Orte oder Lande hinweggenommen sind, ist der Ort, das Land ein ausgeflogenes, leeres Nest, das niemand mehr schützet. Das Feuer Gottes kommt darüber und frißt es hinweg.


 Wenn man die Zeit des jüdischen Krieges bedenkt und allen den Jammer liest, welchen der Geschichtschreiber Josephus, der Jude, aufbewahrt hat, so däucht es einem eine lange Jammerzeit. Jammer macht eine Zeit ohnehin lang, auch wenn sie kurz ist, − wie lang wird eine lange Zeit durch Jammer werden! Und doch sagt unser HErr, die Tage seien verkürzt worden um der Auserwählten willen, um der Wenigen willen, die im ungeheuern Leid und Jammer sich etwa reuend und betend zu Jesu wandten, Deß Blut nun über das Land kam, − um der Wenigen willen, deren Bekehrung der HErr voraussah und denen, wenn auch sie aufgerieben worden wären, die Gnadenfrist der möglichen Bekehrung zu ihrem ewigen Seelenschaden zu kurz zugemeßen gewesen wäre. Kein Mensch weiß etwas von diesen Auserwählten, welche der HErr nach der Flucht der Seinen gen Pella noch im Lande hatte; der HErr aber kannte sie, und um der wenigen Verborgenen willen fanden alle Schonung und die Tage des Leidens wurden verkürzt. Nicht bloß hatte der grausame Krieg ruhigere Zwischenräume, welche von der Summe seiner Leidenstage abgezogen werden müßen, − Zwischenräume, während welcher zu Flucht und Rettung wiederholte Gelegenheit gegeben war; sondern der HErr versichert, daß die Noth im Ganzen noch länger hätte anhalten können, als sie ohnehin angehalten hat, und dann wäre von Israel gar niemand errettet worden, und alle hätten die Gnadenfrist verloren, die ihnen zum Frieden dienen sollte; es wäre von den Juden allen niemand selig worden. − Die Welt erkennt und glaubt es nicht, sondern sie verlacht es als eine thörichte Anmaßung, wenn, wie wir hiemit wiederholt thun, behauptet wird, daß die wenigen Auserwählten, die der HErr entweder schon gefunden hat oder nach Seiner Voraussicht finden wird, das Glück aller andern sind, daß um ihretwillen einem ganzen Haufen böser Menschen die Gnadenzeit verlängert und allerlei Güte Gottes zu Theil wird. Aber gewis und wahr ist es doch. Denn Der sagt es, welcher es bei der Zerstörung Jerusalems mit der That bewiesen hat, − und wer weise ist, achtet deshalb darauf.


 Es ist ein Zeichen von der großen, angeborenen Liebe des Menschen zu Glück und Leben, daß er unter keinerlei Umständen sich in ein hoffnungsloses Leiden fügen will. Wenn auch alles Zeugnis gibt, daß keine Hoffnung mehr sei, so träumt und dichtet die arme verlorene Seele doch noch von Hoffnung und von Errettung. So wars bei den Juden. Ihr Glück war aus, das Maß ihrer Sünde war voll, nicht Züchtigung, Austilgung galt es und eine Zerstörung, von der sie sich nicht wieder erholen sollten. Sie konnten es selbst schließen und sehen und mit allen Sinnen inne werden. Da nun kein irdischer Ausweg mehr erschien, hoben sie ihre Augen auf und warteten, blickten umher und spähten, ob nun der Messias käme und Rettung böte. Ja, als schon alles zu Ende

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/487&oldid=- (Version vom 31.7.2016)