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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

That auf die nehmenden Herzen überträgt. Und so ist JEsus! Er hilft, und weil Er gerne hilft, aber den Unwilligen und Ungläubigen weder helfen will, noch nach des Reiches Satzung kann: so freut Er sich, wenn Ihm gläubige Herzen entgegenkommen und legt ihnen die Ehre davon bei, daß Ihm Sein Werk an ihnen gelingt. − Sie hingegen, diese Herzen, werden ihrerseits einsehen, wie es gemeint ist, werden ihren HErrn erkennen, als den einzigen Brunnen ihrer Hilfe, werden Ihm allein die Ehre geben und lebenslang nicht die Stunde vergeßen, wo ihr betender, hilfbegieriger Wille Seinem freundlich gewährenden, gleichfalls hilfbegierigen Willen entgegenkam, − der doppelte treue Wille des Helfers und des Elenden sich vereinte und von dem mächtigen Willen des Helfers alle Noth gestillt und Freude statt Klage ins Herz gebracht wurde!

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 6. Wie schön ist die Hilfe JEsu, die der Blutflüßigen widerfuhr! Und noch wie viel schöner die Hilfe, die dem Obersten widerfahren ist! Eine herrliche Vorbereitung ist jene Genesung für die Todtenerweckung, zu der wir den HErrn begleiten. Herzergreifend ist die Geschichte des Jünglings von Nain, − auf die Kniee und aufs Angesicht werfend die Todtenerweckung Lazari; aber was für einen wunderbaren Reiz der Lieblichkeit und Holdseligkeit Christi hat vor den beiden andern Geschichten die Auferweckung des Töchterleins Jairi voraus! Es ist, wie wenn alles von dem Jugendschimmer des entschlafenen Mädchens erfüllt wäre, wie wenn man von einem Todesfall und Auferstehen unter Blumen und Frühlingsduft läse. Selbst auf des HErrn Angesicht thront nicht der gestrenge Ernst wie dort bei Lazari Erweckung, wie selbst dort bei dem Jüngling von Nain! Mit dem jugendlichen Kinde freundlich, selber lieblich handelnd finden wir Ihn, und eine Huld, wie dort, wo Er sprach: „Laßet die Kindlein zu mir kommen“ ist über Sein Thun hier ausgegoßen, da Er eine jugendliche Seele aufs Neue dem Leib, dem jugendlichen, vertrauen will. − Nach morgenländischer Sitte, die Todten schnell nach dem Verscheiden zu bestatten, haben sich bei Ankunft JEsu und des Vaters schon die Spielleute versammelt, welche ihre traurigen Melodien zum Klaggesang anstimmen wollen. Schon ist das Volk auf der Straße zu Haufe gekommen, um das fromme Mägdlein auf seinem letzten Gang zu begleiten. Da tritt der HErr unter sie hinein, wehret dem Leide und spricht: „Weichet, denn das Mägdlein ist nicht todt, sondern es schläft.“ − Liebe Brüder! In den Beibüchern unserer Väter findet man zuweilen Gebete, welche die Ueberschrift tragen: „Die Sprache des Evangeliums vom Tode zu verstehen.“ Diese Gebete sind gewis nicht überflüßig. Man sieht es hier bei dem Volke, welches JEsum verlacht, weil es, vom Tode des Kindes überzeugt, der Meinung war, Er wolle mit Seinem süßen Singen vom Schlafe den Tod, den unleugbar erfolgten Tod des Mädchens leugnen. Man sieht es aber auch an den Auslegern, welche aus den Worten JEsu schloßen, das Volk habe Unrecht gehabt und das Kind sei nicht gestorben gewesen. Die armseligen, elenden Ausleger! Eine Spur der Gottheit Christi meinen sie durch ihr Auslegen auszutilgen, und könnten sich selbst sagen, daß sie doch nur eine andere Spur Seiner Gottheit aufdeckten, wenn sie Recht hätten. Alles meint und glaubt, das Kind sei todt. Wenn nun Er allein unter allen, ehe Er das Kind gesehen, weiß, daß sie nur schläft; so ist Er ja allwißend. Doch stille hier von Solchem! „Sie schläft“ − es ist volle Wahrheit, die nur nicht jeder versteht. Der Tod der Seinigen ist ein Schlaf, was den Leib betrifft. Die Seele schläft nicht, sie wandelt außer dem Leibe, ist daheim bei JEsu, genießt ewige Freuden in Seinem Anschauen. Aber der Leib schläft. Der Schlaf ist eine Art Trennung der Seele vom Leibe, und der Tod ist auch eine solche Trennung, aber eine völlige Trennung. Jedoch die Seele kehrt wieder und wird wieder mächtig in dem todten Leibe, wie am Morgen im schlafenden Leibe. Wenn die Mutter am Morgen den schlafenden Kindern ruft, wird die Seele im Leibe wieder Herrin und das fröhliche Leben des gestrigen Tages beginnt. So ruft der HErr Seinen Todten − und die Seelen eilen wieder in die geliebte Behausung − und das Leben von gestern beginnt. Keine Mutter weckt vom nächtlichen Schlafe die Kinder so leicht, wie der HErr die Todten vom Todesschlafe. Vor Ihm sind Seine Heiligen Schlafende − Morgenroth ist über den Gräbern − und die Gottesäcker sind Felder, auf denen eine unsterbliche Hoffnung blüht. Nicht Tod − Schlaf! So lehrt der HErr und so thut Er, wie dieses Evangelium bezeugt. Wer das bedenkt, meine Freunde, der legt sein Haupt muthig nieder zum Tode! Kinder verziehen zu schlummern, und des ewigen Lebens ungewisse Seelen wehren zuweilen

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/484&oldid=- (Version vom 31.7.2016)