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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der HErr in Capernaum hatte, der Königische gehört, deßen Sohn der HErr geheilt hat. Das heutige Evangelium lehrt uns zu derselben Schaar auch den Schulobersten zählen. Sehet hier eine schöne Einigkeit des Glaubens zwischen zwei Männern, deren einer dem weltlichen, der andere dem kirchlichen Regimente der Stadt Capernaum und des Landes umher zugehört. Ich weiß nicht, wie hervorragend im weltlichen Regimente der Königische gewesen ist, ich kann seinen Einfluß nicht berechnen; aber dies Beispiel der Einigkeit zwischen einem Fürstendiener und einem Kirchendiener erinnert mich doch an das große Glück eines Dorfes, einer Stadt, eines Landes, in welchem die weltlichen und die kirchlichen Obern in Christi JEsu eines Sinnes sind. Zwar ist hie und da ein Volk so hart und entfremdet von allem Sinn für das, was göttlich ist, daß auch dies gesegnete Beispiel heiliger Einigkeit keine Frucht trägt, und wer weiß, ob es nicht auch in Capernaum der Fall war? Aber schön ists, wenn sich das Schwert und der Hirtenstab zusammen vor JEsu neigen, und die Obersten im Staate und in der Kirche zusammen anbeten und die Werke ihrer verschiedenen Aemter als Lob- und Dankopfer auf Gottes Altären darbringen. Schön ists − und es verhärte sich dagegen, wer da will, es wird doch auch an solchen nicht fehlen, die von solchem Wunder (denn wunderselten und wunderlieblich ist es ja gewis!) zu dem HErrn gelenkt werden, welcher allein die Wunder thut, die da oder dort geschehen.

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 3. Jedoch, es ist nun Zeit, daß wir den Geschichten selber näher treten, von welchen unser Evangelium erzählt. Der Schuloberste hatte eine Tochter, welche durch eine harte Krankheit dem Tode so nahe gekommen war, daß er bei seinem Weggehen von ihr zu JEsu die gewiße Ueberzeugung hatte, sie würde eher sterben, als er JEsum erreichen würde. Er gieng hinweg, und als er zu JEsu kam, sprach er es zuversichtlich aus: „HErr, meine Tochter ist jetzt gestorben; aber komm und lege Deine Hand auf sie, so wird sie lebendig.“ Das ist das eine Beispiel großen Glaubens, von welchem unser Evangelium spricht. Und ein zweites reiht sich alsbald an. Der HErr stand williger, als bei der Bitte des Königischen, auf und gieng dem Obersten nach, und Seine Jünger giengen mit Ihm. Unter Weges sieht Ihn ein Weib, das zwölf Jahre den Blutgang gehabt hatte, ohne eine Hilfe finden zu können. Sie drängt sich herzu, sie kommt JEsu von hinten nahe, sie rührt begierig, in der Meinung, Er merke es nicht, Seines Kleides Saum an und spricht: „Möchte ich nur Sein Kleid anrühren, so würde ich gesund.“ − Liebe Brüder! Man liest unter uns von Kindesbeinen an diese Geschichten und hört sie lesen, und sie verlieren dadurch das Auffallende. Es ist, als läse man Dinge aus einer andern Welt, welche in den gewöhnlichen Umständen, in denen auch wir leben, keine Erläuterung und nichts finden können, was zu einer anschaulicheren und eingreifenderen Auffaßung beitragen könnte. Und doch haben die Menschen, von denen man liest; ganz dasselbe Leben gehabt, wie wir, ihr Herz und Sinn, ihr Denken, Wollen und Empfinden war dem unsrigen verwandt, und wir begehen deshalb mit nichten einen Fehl, wenn wir uns in ihre Lage und Verhältnisse so recht hineindenken. Versucht es einmal bei den zwei eben genannten Beispielen und ich will wohl sehen, ob durch eine lebendige Vergegenwärtigung der Umstände des Weibes und des Obersten nicht die Achtung vor dem Glauben wächst, den sie beweisen, ob nicht gerade hiedurch auch über euch die Verwunderung kommt, welche doch auch schon viele beim Lesen der beiden Geschichten ergriffen hat. Denkt euch z. B. die Blutflüßige! Zwölf Jahre leidet sie, alles hat sie angewendet, um heil zu werden, ihr ganzes Vermögen hat sie an die Aerzte gehängt, sie ist arm worden vor lauter kräftiger Begier, wieder gesund zu werden. Was Wunder wäre gewesen, wenn sie nun nach zwölf Jahren alle Hoffnung aufgegeben, sich ihrem Looße überlaßen und niemandem mehr irgend eine Hilfe zugetraut hätte. Und doch ist sie eines so überaus muntern Glaubens! Sie ist durch Mislingen angewandter Bemühung so gar nicht todt und träg geworden, daß sie nicht bloß durch JEsum, sondern durch den hinterrücks berührten Saum Seines Kleides glaubt genesen zu können! Steht nicht jetzt das Weib viel größer und herrlicher an Glauben vor euch? − Oder denkt euch an des Obersten Stelle! Sein geliebtes Kind ist nun am Sterben. Ein anderer wäre von dem Sterbelager nicht gewichen, hätte keinen Blick vom brechenden Auge gewendet, nicht um viel auch nur einen einzigen von den letzten Odemzügen des theuren Kindes versäumt, mit jedem Tropfen des entfliehenden Lebens gegeizt. Und dieser Vater verläßt sein sterbendes

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/482&oldid=- (Version vom 31.7.2016)