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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am vierundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Matth. 9, 18–26.
18. Da Er solches mit ihnen redete, siehe, da kam der Obersten einer, und fiel vor Ihm nieder, und sprach: HErr, meine Tochter ist jetzt gestorben; aber komm und lege Deine Hand auf sie, so wird sie lebendig, 19. Und JEsus stand auf und folgte ihm nach, und Seine Jünger. 20. Und siehe, ein Weib, das zwölf Jahre den Blutgang gehabt, trat von hinten zu Ihm, und rührete Seines Kleides Saum an. 21. Denn sie sprach bei sich selbst: Möchte ich nur Sein Kleid anrühren, so würde ich gesund. 22. Da wandte sich JEsus um, und sahe sie, und sprach: Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Und das Weib ward gesund zu derselbigen Stunde. 23. Und als Er in des Obersten Haus kam, und sahe die Pfeifer und das Getümmel des Volks, 24. Sprach Er zu ihnen: Weichet, denn das Mägdlein ist nicht todt, sondern es schläft. Und sie verlachten Ihn. 25. Als aber das Volk ausgetrieben war, gieng er hinein, und ergriff sie bei der Hand, da stand das Mägdlein auf. 26. Und dies Gerücht erscholl in dasselbige ganze Land.

 1. ALso gab es in dem schlimmen Capernaum doch noch manches Gute. Der Königische, welcher zu Christo nach Cana gekommen ist, um seines Sohnes Genesung zu erlangen, − der Gichtbrüchige, durch deßen Heilung der HErr Seine Macht, Sünden zu vergeben, bewies, − im heutigen Evangelium der Schuloberste, der Vorsteher der Synagoge, und das blutflüßige Weib waren in Capernaum gefunden. Wie manch anderes Herz schlug für den HErrn in „Seiner Stadt!“ Und doch war es dem HErrn zu wenig und wir hören einmal aus Seinem Munde ein gewaltiges Wehe über Capernaum um des geistigen Widerstands willen, welchen die meisten Seinen Wundern und Predigten entgegenstellten! Wem viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert! Je mehr Saat, desto reichere Aernte wird erwartet! Für den einen ist viel, was für den andern wenig ist, und je nachdem Gott Gaben gibt, je nachdem erwartet Er Opfer! Dennoch aber mögen die Seelen, welche dem HErrn in Capernaum gläubig anhiengen, sie und ihre Gebete und Seufzer zu Gott neben der göttlichen Langmuth Ursache gewesen sein, weshalb die zeitlichen Strafen Gottes auf Capernaum nicht hereinbrachen, welche einst über Sodom und Gomorrha und in anderer Weise über Tyrus und Sidon gekommen waren. Denn wer sich des sanftmüthigen JEsus Urtheil und Wehe über Capernaum recht überlegt, der kann doch nicht anders als auf eine gewaltige Verschuldung schließen, auch wenn sie aus dem Evangelium nicht so völlig nachgewiesen werden kann. Eine Verschuldung, die Gottes Lamm zum lauten Wehruf und zu so großen Drohungen bringt, muß himmelschreiend gewesen sein und den Zorn des allmächtigen Gottes dermaßen herausgefordert haben, daß ein starker Arm dazu gehörte, Gottes aufgehobenen Arm zurückzuhalten. Diesen starken Arm aber − ich finde ihn in dem Glauben und Gebete der oben genannten und angedeuteten kleinen Heerde JEsu, und es hat mich gedrängt, auf die Kraft ihres Glaubens und Gebetes hinzuweisen, weil ich euch daran ein redendes Beispiel nachweisen kann davon, daß zuweilen ein Dorf und eine Stadt Gottes Geduld und Langmuth der Fürbitte weniger, vielleicht unbekannter Beter verdanken. Der HErr schenke auch unsrer Gemeinde eine solche Schaar treuer Fürbitter und schone unser in Gnaden!

 2. Ich halte mich beim Eingang und im Grunde bei Nebendingen auf, indem ich bemerke, was nun folgt; aber es ist mir noch der Inhalt des vorachttägigen Vortrags im Sinn, und als ein Nachklang deßen, was dort gesagt wurde, mag euch denn doch auch die folgende Bemerkung gefallen. Es wurde nemlich schon bemerkt, daß zu den wenigen gläubigen Seelen, die

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/481&oldid=- (Version vom 31.7.2016)